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Hex

Titel: Hex
Autoren: Kai Meyer
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entfernen. Ganz gelang es ihnen nicht, denn einige der seltsamen Hieroglyphen hatten sich tief ins Gestein geätzt.
    Ein junges Paar, er ein Weber, sie die Gehilfin einer Näherin, vereinigte sich im gleichen Augenblick, da der Kaufmann sein Werk vollendete und die Gefangene ihre Mißgeburt ins Leben spie. Die beiden Verliebten hatten sich unter Vorwänden von ihrer Arbeit in einen Schuppen zurückgezogen und hielten einander in den Armen, als grelles Licht durch die Spalten im Holzdach fiel. Der junge Weber ergoß seinen Samen in die Geliebte, und neun Monate später brachte sie ein Mädchen zur Welt, von dem es in den Annalen heißen sollte, es habe zeit seines Lebens einen Heiligenschein getragen.
    Ein junger Schuster brach auf dem Vorhof der Kaiserburg tot zusammen, als ihn der Schatten des Wetterhahnes auf dem Sinwellturm traf. Zeugen erklärten unter Eid, der Schatten sei plötzlich vorgeschnellt wie die Zunge einer Schlange und habe den Schuster regelrecht aufgespießt. Eine äußerliche Wunde konnte nicht gefunden werden, doch ergab eine Untersuchung, daß sein Herz geplatzt war wie der Frosch am Strohhalm eines Kindes.
     
    Zuerst war es im Osten, und von dort aus kam es näher. Der Priester spürte den unbändigen Zwang, die Augen im Angesicht solcher Herrlichkeit zu schließen, doch dagegen hatte er vorgesorgt. Unter seinem Gewand holte er eine Handvoll winziger Holzspäne hervor, nicht größer als Nadeln, und legte sie vor sich auf den Boden. Zitternd hob er mit der linken Hand seine Augenlider, während er mit der Rechten die kleinen Hölzer darunter steckte, vier auf jede Seite, bis es aussah, als blickte er durch Gitterstäbe. Jetzt mochte geschehen was wollte, seine Augen würden sich nicht mehr schließen. Den Schmerz nahm er nicht einmal wahr.
    Als er wieder aufblickte, waren die ersten Lichter vom Himmel gestürzt und verharrten nun hoch über der Stadt in völliger Reglosigkeit. Der Priester lächelte verklärt. Sie schienen abzuwarten, genauso wie er selbst.
    Weitere Erscheinungen fielen aus der Höhe hernieder, manche steil und schnell wie Steine, andere in gemächlichen Spiralen und Kurven. Wenig später schon wimmelte es am Himmel über Nürnberg von merkwürdigen Scheiben, Kugeln und Kreuzen, manche strahlend hell, andere schwarz wie Kohle oder rot wie übergroße Blutstropfen. Sie alle wirbelten wirr durcheinander, als sich ein weiteres Ding herabsenkte, geformt wie eine Speerspitze und vom Schwarz der tiefsten Nacht. Aus zwei hellen Kerben an seiner Unterseite schwirrten mehr und noch mehr Kugeln hervor, von denen sich einige wiederum an die Enden der Kreuze setzten. Auf den ersten Blick sah all das aus wie das überirdische Spielzeug eines Kindes, frech und lustig durcheinandergewirbelt. Dann aber ertönte ein Donnerschlag, und eine der Kugeln sackte abrupt in die Tiefe. In einer schwarzen Wolke prallte sie außerhalb der Stadtmauern in die Felder. Zu weit, um Genaueres auszumachen.
    Der Priester kniete im Gras und betete ohne Unterlaß. Nun, da er die Lider nicht mehr schließen konnte, brannten seine Augen wie Feuer. Er spürte, wie seine Augäpfel trockneten, seine Sicht wurde mit jedem Herzschlag schlechter. Und doch wagte er nicht, die Holzspäne herauszunehmen, aus Furcht vor der eigenen Schwäche, aus Angst, seine Augen könnten sich vor dem Glorienschein des Göttlichen für immer verschließen. Dünne Rinnsale bluteten über seine Wangen, vermischt mit Tränen, und immer noch betete er mit all seiner Kraft, betete, wie nie zuvor in seinem Leben.
    Er konnte so gut wie nichts mehr erkennen. Seine verschleierten Blicke nahmen nur noch die gröbsten Bewegungen wahr. Das Surren in seinen Ohren war betäubend in seiner Kraft und Klarheit, und immer wieder ertönten schreckliche Donnerschläge. Mehrfach erbebte die Erde, als weitere der himmlischen Erscheinungen zu Boden stürzten. Wo, das vermochte er nicht zu erkennen, wohl aber war eines der Beben so heftig, daß er ehrfürchtig annahm, der Aufschlag habe ganz in seiner Nähe stattgefunden.
    Sein Sichtfeld war ein einziger Taumel aus Farben, blau und rot und schwarz, übertüncht vom Gleißen der Sonnenstrahlen und dem Licht der leuchtenden Kugeln. Er betete jedes Gebet, das ihm in den Sinn kam, und nach dem letzten Vers begann er von vorne. Was hier geschah, gleich vor ihm und dem Antlitz einer ganzen Stadt, würde die Welt verändern. Bald schon würde jeder von Gottes Gesandten wissen, würde erfahren, was vorgefallen war.
    Das
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