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Die Frau im Fahrstuhl

Die Frau im Fahrstuhl

Titel: Die Frau im Fahrstuhl
Autoren: Helene Tursten
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Die Frau im Fahrstuhl I
    Aus meinen vielen Jahren als Krankenschwester habe ich unzählige Erinnerungen. Gewisse Episoden sind lustig, andere traurig. Aber es gibt eine Erinnerung, die mich niemals losgelassen hat. Sie begleitet mich jetzt schon seit fast fünfzig Jahren.
    Bevor ich die Schwesternschule besuchte, arbeitete ich ein Jahr nachts als Schwesternhelferin. Ich dankte dem Schicksal, das mir eine langfristige Vertretung in der neu gebauten und gut ausgestatteten Hautklinik des Sahlgrenska Krankenhauses beschert hatte.
    Wir waren zu dritt im Nachtdienst, die Krankenschwester Ellen, die Schwesternhelferin Marianne und ich. Wir waren ungefähr im selben Alter, und von Anfang an verstanden wir uns gut. Mein Dienst begann im August. Bereits nach ein paar Nächten fiel mir auf, dass Schwester Ellen und Marianne tuschelnd in die schwarze Augustnacht starrten. Ich hörte nur Fetzen: »Jetzt ist bald Vollmond…«
    »Sie kommt sicher dieses Mal auch…«
    Schließlich konnte ich meine Neugier nicht länger bezwingen, sondern fragte, was es da zu tuscheln gab.
    Meine Kolleginnen sahen sich an und nickten sich dann zu. Schwester Ellen ergriff das Wort: »Ein Jahr nach Eröffnung der Klinik fiel uns Nachtschwestern auf, dass sich bei Vollmond seltsame Dinge ereigneten. Genau um Mitternacht fährt der Fahrstuhl ins oberste Stockwerk.«
    »Aber da oben ist doch nur die Verwaltung. Dort arbeitet doch niemand mitten in der Nacht! Und außerdem ist dort dann abgeschlossen«, wandte ich ein.
    Schwester Ellen nickte viel sagend.
    »Genau. Aber wenn der Fahrstuhl wieder nach unten kommt, steht eine Frau darin. Sie ist vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Sehr hübsch gekleidet. Seltsam ist nur, dass sie immer dieselben Kleider trägt.«
    »Hast du sie mit eigenen Augen gesehen?«, fragte ich.
    »Klar. Mehrmals. Nächstes Mal, wenn wir wieder Dienst haben, ist Vollmond. Dann stellen wir uns in den Korridor und schauen sie uns an.«
    Damit war das entschieden.
     
    Es war spannend und etwas kribbelig, kurz vor Mitternacht im dunklen Treppenhaus zu stehen. Der Vollmond schien durchs Fenster, und die Treppenstufen badeten in seinem kalten Licht. Vor der Fahrstuhltür war es jedoch vollkommen dunkel. Dort standen wir zu dritt, die Köpfe dicht an dicht vor dem schmalen schwarzen Fahrstuhlfenster.
    Kurz vor der zwölften Stunde glitt der leere Aufzug auf dem Weg nach oben an dem Fenster vorbei. Schwester Ellen drückte immer wieder auf den Knopf, aber der Fahrstuhl fuhr einfach weiter.
    Der leuchtende Pfeil, der anzeigte, dass sich der Aufzug auf dem Weg nach oben befand, erlosch. Fast unverzüglich leuchtete der Abwärtspfeil auf. Meine Spannung nahm zu, als ich hörte, wie sich der Fahrstuhl unserem Stockwerk näherte.
    Als Erstes sah ich ein Paar schwarze, funkelnde, spitze Damenschuhe mit wahnsinnig hohen Pfennigabsätzen. Dann kamen ein Paar schlanke Unterschenkel in Nylonstrümpfen. Auf Kniehöhe begann der Rocksaum. Der Rock war eng und gerade geschnitten und aus einem grob gewebten, tannengrünen Stoff. Mit ihren Händen, die in schwarzen Handschuhen steckten, presste die Frau eine schwarze Lederhandtasche gegen die Oberschenkel. Ihre Kostümjacke mit den blitzenden Goldknöpfen reichte ihr knapp bis zur Taille. Zu dem Kostüm trug sie eine weiße Bluse und eine Bernsteinkette. Ihre rot geschminkten Lippen in ihrem bleichen Gesicht waren vollkommen bewegungslos. Sie war sehr ernst und sah uns durch eine Brille, Modell Fünfziger Jahre, an. Das grüne Gestell passte zu dem eleganten Kostüm. Sie stand so da, dass sie durch das Fenster in der Fahrstuhltür deutlich zu sehen war. Ihr kupferrotes Haar glänzte im Licht des Aufzugs. Sie trug einen ordentlichen Pagenschnitt. Wäre ihr Gesichtsausdruck nicht so nichts sagend gewesen, hätte man sie als eine strahlende Schönheit bezeichnen können.
    Der Fahrstuhl verschwand nach unten, und im Fenster der Fahrstuhltür wurde es wieder schwarz. Niemand von uns sagte etwas. Schweigend kehrten wir auf die Station zurück und begaben uns in die kleine Küche. Ellen stellte Tassen auf den Tisch und goss aus einer Thermoskanne Kaffee ein. Erst dann sagte sie: »Na, was hältst du von der Dame im Fahrstuhl?«
    »Ehrlich gesagt weiß ich das nicht«, entgegnete ich.
    Sowohl Marianne als auch Ellen starrten mich an, als erwarteten sie eine schlüssigere Antwort. Da mir jedoch nichts weiter dazu einfiel, meinte Schwester Ellen: »Ich finde es merkwürdig, dass sie immer zur gleichen Zeit
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