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Die Frau im Fahrstuhl

Die Frau im Fahrstuhl

Titel: Die Frau im Fahrstuhl
Autoren: Helene Tursten
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auftaucht und immer dieselben Kleider trägt. Der Aufzug bleibt nicht stehen, obwohl man den Knopf drückt. An ihrem Aussehen hat sich nichts verändert, seit wir sie zum ersten Mal gesehen haben. Sie steht immer in derselben Positur da und hat dieselbe Frisur und dieselbe ausdruckslose Miene… alles ist immer genau gleich!«
    In der Küche trat eine lange Stille ein, und ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.
    Die Dame im Fahrstuhl war geheimnisvoll, und sie machte mir Angst.
     
    Im folgenden Monat sprachen wir oft über die Fahrstuhlfrau. Wir konnten uns nicht darüber einigen, was die geheimnisvolle Frau wohl für Anliegen und Absichten haben mochte, wollten das Rätsel aber gemeinsam lösen. Als es nur noch wenige Nächte bis zum nächsten Vollmond waren, hatten wir einen Plan ausgearbeitet.
    Es war eine schöne Vollmondnacht. Die Temperatur betrug einige Grade unter null, und der Mond schien durchdringend von einem wolkenlosen Himmel.
    Kurz vor zwölf traten wir ins Treppenhaus und stellten uns so auf, wie wir es abgesprochen hatten. Marianne hielt einen kleinen Hammer in der Hand und hatte sich neben dem Notschalter aufgebaut. Ihre Aufgabe war es, das Glas zu zerschlagen und den Knopf zu drücken, sobald sich die Frau auf unserem Stockwerk befand. Ich selbst hielt den Griff der Fahrstuhltür mit meiner schweißnassen Hand umklammert. Wenn der Fahrstuhl zum Stillstand kam, war es meine Aufgabe, die Tür aufzureißen. Schwester Ellen stand direkt vor dem Aufzug. Sie wollte die Frau ansprechen und ausfragen.
    Nervös überlegte ich mir, ob man das wirklich tun durfte. Hatte die Frau nicht jedes Recht dazu, wann und wo immer sie wollte, Fahrstuhl zu fahren? Ich wurde aus meinen Überlegungen gerissen, als der Lift auf dem Weg zum obersten Stockwerk vorbeifuhr.
    Als der Abwärtspfeil aufleuchtete, hob Marianne den Arm. Sie stand bereit, das Glas zu zerschlagen. Ich spannte jeden Muskel an, um die Tür aufzureißen, wenn der Lift stehen blieb. Schwester Ellen räusperte sich nervös in der Dunkelheit.
    Jetzt sah ich die Schuhe mit den hohen Absätzen. Dann kamen ihre Schienbeine, der Rocksaum, die Handtasche. Marianne holte zum Schlag aus.
    Da ging auf einmal auf unserer Station der Alarm los.
    Alle, die jemals im Krankenhaus gearbeitet haben, wissen, dass man dann alles stehen und liegen lässt.
    Es ist ein Reflex. Bei Herzstillstand können ein paar Sekunden den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.
    Wir drei am Fahrstuhl zuckten zusammen. Erst trauten wir unseren Ohren nicht. Alarm! Eine Sekunde später rannten wir bereits auf die Station. Die Lampe über der Tür eines Patientenzimmers ganz hinten am Gang blinkte. Wir rannten, so schnell wir konnten. Das Zimmer war nur mit einem Patienten belegt, einem Fünfunddreißigjährigen mit schwerer Psoriasis.
    Als wir die Tür aufrissen, lag er bleich vor uns. Er hatte keinen Puls mehr. Schwester Ellen warf sich über den Patienten und begann mit der Herzmassage. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, machte Marianne Mund-zu-Mund-Beatmung. Nach nur einem Atemstoß und einigen kräftigen Stößen auf den Brustkorb erwachte der Patient wieder zum Leben. Ellen bat mich, den Dienst habenden Arzt zu rufen. Ich rannte ins Schwesternzimmer und piepste ihn an.
    Nach nur wenigen Minuten hörten wir schon die eiligen Schritte des Arztes auf der Station. Er wirkte verschlafen, seine Haare waren verstrubbelt, und sein Kittel war falsch zugeknöpft. Es war einer der jüngeren Assistenzärzte. Mich beschlich ein Verdacht: Hatte sich unsere Rothaarige oben in der Verwaltung mit ihm getroffen? Als ich länger darüber nachdachte, erkannte ich, dass es so nicht gewesen sein konnte, denn er arbeitete erst seit weniger als einem Monat bei uns.
    Der Arzt war sich unschlüssig und beriet sich lange mit dem Kollegen von der Inneren. Schließlich wurde entschieden, den Mann auf die kardiologische Intensivstation zu verlegen, um ihn dort eingehender zu untersuchen. Dort sollte er dann einige Stunden zur Beobachtung bleiben.
    Deswegen dauerte es auch bis zur nächsten Nacht, bis der Patient uns erzählen konnte, was vorgefallen war.
     
    Wir drei saßen in der Küche und tranken Kaffee. Plötzlich klopfte es schüchtern. Der Mann, der in der Nacht zuvor den Herzstillstand gehabt hatte, stand in der Tür. Verlegen sagte er: »Ich kann nicht schlafen nach dem, was gestern vorgefallen ist, und habe den Kaffee gerochen. Ich dachte, dass ich von Ihnen vielleicht einen Schluck
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