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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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    Ich erinnere mich an nichts, weiß nicht, wie es begonnen hat. Nur ein paar Gedankensplitter sind da. Geöffnete Fenster in der Wohnung, ein praller Sommernachmittag, die durchgeknallten Frösche vom Fluss Vuka. Ich schiebe mich an zwei Sesseln vorbei und singe vor mich hin. Wer sagt es, wer wagt es, uns so zu belügen, Serbien klein zu nennen, uns so zu betrügen. Mein Vater faltet die Zeitung zusammen, dreht sich zu mir um, und ich kann seine Nervosität förmlich spüren. »Was singst du denn da?«, fragt er. – »Nichts, das habe ich von Bora und Danijela gehört.« – »Ich will das nie wieder von dir hören. Ist das klar?« – »Ja, ist gut, Alter.« – »Was heißt hier Alter, elende Scheiße, ich bin dein Vater!«
    Wir packen für die Fahrt ans Meer. Zum ersten Mal in meinem Leben machen mein Bruder und ich uns allein auf die Reise. Er ist sechzehn, ich bin neun Jahre alt. Unsere Nachbarin Željka kommt auch mit. Sie ist ein Jahr jünger als mein Bruder. Ich will so sein wie sie, und ich bin sehr aufgeregt, weil ihr unsere beiden Mütter aufgetragen haben, mich im Auge zu behalten. Ich kann vor lauter Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen. Auf dem Tischchen zwischen meinem und dem Bett meines Bruders liegen die Reisepässe. Das Licht im Zimmer ist ausgeschaltet. Ich frage meinen Bruder, ob ich mich zu ihm legen darf. Mit flüsternder Stimme sage ich: »Wozu brauchen wir denn Pässe, wir fahren doch nur ans Meer, oder?« – »Vater hat gesagt, dass wir, wenn es brodeln sollte, zu unserem Onkel nach Deutschland fahren werden«, antwortet er. Ich habe keine Ahnung, was er meint, was brodeln könnte, ahne aber, dass es etwas mit Politik zu tun haben muss, weil das Wort in letzter Zeit ständig in diesem Zusammenhang verwendet wird. Und ich habe ein kleines Äffchen, das ich nach unserem Präsident Meso benannt habe, weil es ihm ein bisschen ähnlich sieht.
    Wir versuchen uns vorzustellen, wie es wohl bei unserem Onkel in Deutschland ist. Mein Bruder sagt, dort seien alle sehr reich und eine Wohnung, wie wir sie haben, sei da nur den Zigeunern gut genug. Ich liebe meinen Onkel sehr. Er kommt immer im Sommer und ist mit einer jungen deutschen Frau verheiratet. Wenn er redet, hören ihm alle aufmerksam zu, und er riecht so gut. Diesen Sommer hatte seine Frau, Gina, den Pudel mitgebracht, Oma und Opa wollen ihn nicht ins Haus lassen, sie sagen, er müsse im Schuppen schlafen. Daraufhin bricht ein großer Streit aus. Oma sagt, sie werde den Köter vergiften, und dann muss Vater alle beruhigen. Gina bleibt schließlich doch im Haus. Unser Onkel bringt immer Geschenke und Marzipan mit. Dieses Jahr habe ich einen Lederhandball bekommen, der sich nicht aufpumpen lässt. Mein Bruder hat einen Fußball bekommen, doch er hat kein einziges Mal mit ihm gespielt. Mein Bruder scheucht mich bald in mein Bett zurück. Noch lange denke ich über all das nach.
    Der Busbahnhof in Vukovar stinkt, es ist früh am Morgen, ich bin jetzt müde und wäre am liebsten im Bett liegen geblieben. Obwohl ich viel zu groß bin, trägt mich meine Tante, sie trägt mich den ganzen Weg lang. Sie hat eine weiße Hose und ein blaues T-Shirt an. Wir gehen auseinander und kommen wieder zusammen, dabei geben wir uns immerfort Abschiedsküsschen auf den Mund, so haben wir einen Vorwand, um Grimassen zu schneiden. Das ist unser Spiel, wir nutzen jede Gelegenheit, uns zu küssen.
    Auf dem Busbahnhof sind viele Kinder, die man auf vier Busse verteilt. Die versammelten Eltern winken und winken, wir winken zurück. Ich kann meine eigenen Eltern nicht mehr erspähen, aber ich winke einfach den anderen, winke allen, auch denen, die ich gar nicht kenne, und die anderen winken mir zurück. Sie lachen und sagen, wir sollen auf uns aufpassen. Ein paar Mütter weinen. Einige von ihnen laufen uns bis zur Kreuzung nach, immer dem Autobus hinterher.
     
    *
     
    Ich war niemals zuvor auf einer Insel. Ich kann es kaum erwarten anzukommen. Wir reisen schon so lange, dass ich mich zwei Mal übergeben musste, aber ich bin nicht die einzige. Wir haben sogar schon mehrmals kurz das Meer sehen können, aber es war jedes Mal gleich wieder hinter irgendeinem Berg verschwunden. Ich bin traurig, weil es heute mit dem Baden nicht mehr klappen wird, aber ein bisschen Angst habe ich auch, denn schwimmen kann ich noch gar nicht.
    Wir haben oft am Donau-Štrand an einer Stelle gebadet, an der das Wasser so flach ist, dass man beim Hineingehen richtig müde wird. Das
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