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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst
Autoren: James Preller
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Der Unfall
    Dies ist der Moment zwischen vorher und nachher, der Punkt, um den sich die Geschichte dreht wie ein Kreisel.
    Also:
    Ein Auto fährt auf einer diesigen Straße nach Westen. Musik dringt heraus, vermischt mit lachenden Stimmen von Teenagern. Aus dem Schatten löst sich ein kleines Tier und wetzt die Pfoten am Asphalt. Nicht dreißig Sekunden früher oder einen Moment später, sondern genau jetzt.
    Der Fahrerin erscheint das Tier nur als traumhafte Gestalt mit zwei roten Augen, die im nebligen Strahl der Scheinwerfer schweben. Sie reißt das Steuer herum, und der Wagen schlittert gegen den Uhrzeigersinn über die linke Spur. Ein Fuß steigt aufs Bremspedal, die Hinterräder blockieren und rutschen, von den Reifen spritzt der Rollsplitt. Dann kracht der Wagen seitlich gegen eine mächtige Eiche, die seit über hundert Jahren ungestört an dieser Stelle steht. Die Beifahrertür beult sich nach innen, und die Metallverkleidung wird zerdrückt wie ein Pappbecher.
    Alles geht ganz schnell. Ein Herzschlag. Die Zeit, die man braucht, um eine Hand zu schütteln, um die Lider zuzupressen und dann … nichts. Blut fließt, Knochen splittern. Der Schnitt einer Rasierklinge: Das Vorher wird zum Nachher, und alles ändert sich.
    Nichts mehr zu machen, aus und vorbei.
    Einen Moment herrscht ungläubige Benommenheit, absoluter Stillstand, eine Leere, die die Wirklichkeit verschlingt. Noch immer läuft die Musik wie der Soundtrack zu einem erstarrten Bild. Ein Auto am Straßenrand, an einen Baum gequetscht, zerbrochene Fenster, zerknautschtes Metall, darüber mit kaltem Blick der gleichgültige Mond. Ein Satellit strahlt eine Stimme ab, die von einer Stadt ohne Hoffnung singt.
    Nach einer Pause setzt wieder das sommerliche Zirpen der Zikaden und Grillen ein, unterbrochen vom Kräch zen eines Ochsenfroschs an einem schlammigen Teich. Und dann fängt im Auto das Schreien an, das alle anderen nächtlichen Geräusche übertönt. Hysterisch, schrill, durchdringend. Auf der Fahrerseite fliegt die hintere Tür auf, und eine Gestalt rutscht vom Rücksitz nach draußen. Mit zuckenden Augen, die nichts sehen, dreht sich die Gestalt und sinkt in der warmen, feuchten, trüben Sommernacht mitten auf der leeren Straße in die Knie, um den böse zerschrammten Kopf in die blutverschmierten Hände zu stützen.
    In ein paar nahe gelegenen Häusern entsteht Bewegung. Über die Scheiben wischen Schatten, Vorhänge zittern. Eine Tür öffnet sich, und torkelnd wie ein Betrunkener ergießt sich ein Lichtkegel auf den Gehsteig. Telefone werden gefunden, Nummern gedrückt. 9-1-1.
    Schnell. Ein Notfall. An einen Baum gefahren. Man sieht kaum was, es klang aber schlimm. Morgan Road, bitte beeilen Sie sich. Bin aufgewacht von einem Krach und von Schreien. Furchtbare Schreie.
    Kommen Sie, damit endlich das Schreien aufhört.
    Zwei von den Insassen sind mit leichten Verletzungen davongekommen. Ein Wunder , werden manche sagen. Gott sei Dank, dem Allmächtigen sei Dank. Der dritte hat sich eine Gehirnerschütterung, Schnittwunden und Prellungen an den Rippen zugezogen.
    Der letzte Insasse, der vorn neben dem Fahrer saß, hatte nicht den Hauch einer Chance. Der Tod war sofort da wie das Fallen eines Vorhangs oder ein Kino, in dem es dunkel wird.
    Das Nachttier huscht zurück ins Gestrüpp, nachdem es seine Rolle in der Tragödie gespielt hat. Aus dem Unfallwagen kommt ein Song.
    This town, it seems so hopeless, so hopeless.
    So ist es, wenn keine Wunder mehr helfen. Das Licht, das Licht verschwindet einfach.

Vorher

1
    Jude kniff die Augen zusammen, um die grelle Sonne wegzublinzeln. Er wartete auf den Bus: auf den Bus um Viertel nach acht am Morgen! Noch dazu am Samstag. Die Haltestelle lag unter der erhobenen Trasse der Long-Island-Bahn, deren summende Gleise sich über die gesamte Länge der Insel erstreckten und die entferntesten Punkte im Osten mit der Pennsylvania Station in Manhattan verbanden. Seit Jude denken konnte, hatte ihn New York City mit seinem exotischen Versprechen von Freiheit und Möglichkeiten gelockt. Die Stadt mit ihren Wolkenkratzern war der leuchtende Gegenpol zu seinem Vorortleben, und um von dort zu flüchten, reichten ein Ticket und fünfundvierzig Minuten Zugfahrt.
    Er hockte sich im Schneidersitz auf den Bordstein, stützte sich auf die Hände und hielt Ausschau nach heranrollendem Verkehr. Die meisten Leute in der Gegend fuhren wie Psychopathen, und Jude war nicht scharf darauf, sich die Beine abreißen zu lassen. Die
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