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2489 - Schach dem Chaos

2489 - Schach dem Chaos

Titel: 2489 - Schach dem Chaos
Autoren: Michael Marcus Thurner
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Einsamkeit ist der Lohn für den siegreichen Strategen
     
    1.
    Log-Aer-M'in
    »Die Legende der Ach-Mar-T'an besagt: Am Ende, wenn Schmerz und Furcht überwunden sind, wird es nur noch ein Volk geben: die Kartanin«, las Log-Aer-M'in mit lauter Stimme. »Es ist ihre Pflicht, die dunklen Zeiten zu durchwandern, um gestärkt aus den Schlachten hervorzugehen. Erst wenn sie das Elend des tiefsten, grässlichsten Jammertals durchlebt haben, werden sie weise und gerecht zu herrschen wissen.«
    Log-Aer-M'in legte den »Almanach der Kampfesweisheiten« beiseite. Das Buch, zwölfte Auflage aus der Zeit der Dynastie der N'amh und inspiriert durch eine Historikerin der Ardustaar-Kartanin, war ihr wertvollster Schatz. Die Aphorismen in dieser Melange aus Hangay und M 33 erschienen ihr zu pathetisch und allgemein formuliert. Doch es steckte viel Wahrheit in ihnen.
    Zufrieden lehnte sie sich zurück und ließ ihre Blicke über die aus Dacoskernholz gefertigten Bücherborde wandern. Die geschicktesten Schreiner, Tischler, Intarsienkünstler, Beizer und Regeltechniker hatten sich mit diesem Wunder beschäftigt, das in jedem Standardwerk über Innenarchitektur der Neuzeit Aufnahme gefunden hätte, wenn ... Ja. Wenn.
    Log-Aer-M'in schob die Kratzdecke zurück und erhob sich. Beide Beine schmerzten. Manche ihrer Wunden waren rotz des Einsatzes modernster Medizin und Hilfsmittel niemals richtig verheilt.
    Sie wusste, dass sie als Kämpferin an vorderster Front versagt hatte. Als Strategin jedoch ...
    Sie winkte mit zwei Krallenfingern. »Augen voller Tränen N'jalas«, ein Untergrund-Roman, der vor mehreren hundert Jahren großes Aufsehen erregt und die damaligen Hohen Frauen ins Zentrum einer wohl fundierten Kritik gestellt hatte, glitt aus dem Regal.
    Ein elektrostatisches Feld umgab die vergilbten Blätter. Es filterte Luftfeuchtigkeit und störendes Licht aus und verhinderte Pilzbefall. Log-Aer-M'in spürte die schützende Energie. Ihre Hautballen prickelten leicht. Keine Hand, kein Tropfen Schweiß würde jemals wieder mit dieser unbezahlbaren Schrift in direkte Berührung kommen.
    Das Restlignin wurde von winzigen, unsichtbaren Robotmilben begutachtet und gegebenenfalls nachgebleicht. Die Tierchen, speziell für Log-Aer-M'ins Bedürfnisse gezüchtet, begegneten mit ihrer vielfältigen körpereigenen Chemieküche auch dem Papierfraß und etwaigen Schmarotzern.
    Sie nickte zufrieden. Die Finessen, die ihre Bibliothek zu bieten hatte, wurden selbst in führenden Büchereien und Museen als beispielhaft angesehen.
    Log-Aer-M'in las ein paar Zeilen, verinnerlichte die Kritik und erkannte die Wahrheit. Die Hohen Frauen unter Kar-Zul-P'en hatten den Kontakt zu den Bürgern verloren gehabt und nicht die notwendige Demut aufgebracht, die von den Kartanin zu Recht eingefordert worden war.
    Diese Schrift, schnörkellos und mit ruhiger Hand verfasst, spiegelte in klaren Worten einen der größten Fehler, die Machthabende begehen konnten. Sie hatten sich einer selbstzerstörerischen Wirkung hingegeben, gemäß dem Grundsatz: »Macht geht vor Recht!«
    Log-Aer-M'in atmete durch. Sie kannte den Geschmack der Macht. Sie hatte lernen müssen, mit ihren Verlockungen umzugehen - und die Grenzen zu erkennen.
    Sie ließ das Buch zurückschweben. Noch hatte sie ausreichend Zeit. Mit einem Klackern der Mittel- und Zeigekralle aktivierte sie das Musik-Set. Der Flottensender brachte Botschaften, die von Glanz und Glorie kündeten.
    Angewidert schaltete sie weg und kramte stattdessen aus ihrem umfangreichen Depot ein auf altem Kunstglas gespeichertes Stück hervor, das in diesen Zeiten kaum noch gespielt wurde.
    Ihre Adjutanten hätten überrascht die Nasen gerümpft, hätten sie die Musik ihrer Wahl gehört. Ein sentimentales Lied, getragen von Streichern, Kratzern und Bläsern, bildete die Ouvertüre zum »Liebeleien«-Zyklus des Ram-Zar-L'ra. Dem sanften Auftakt folgte der wuchtige Anklang des Hauptthemas, eingepackt in melancholischen Schmerzgesang, begleitet von der Spitzharfe, deren Töne tief drin in Log-Aer-M'ins empfindlichen Ohren ein Jucken verursachten.
    Sie hockte sich nieder und versank in der Musik. Versuchte sich vorzustellen, wie der Komponist vor mehr als 390 Jahren die endlosen Felder seiner Heimat durchwandert hatte, um Rhythmus und Melancholie des Planeten zu spüren und zu verarbeiten. Das Ergebnis war ein Werk von monumentaler Tiefe geworden, das dennoch leicht und beschwingt wirkte und ihr Leben ein wenig erhellte.
    Log-Aer-M'in
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