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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
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der Sicherheit als Erleuchtung. Bei Francisco jedenfalls hatte es sich in der vergangenen Nacht angekündigt, ihn letztlich auch hierher geführt, und jetzt, während er zu der Bronzeplastik emporschaute, füllte es ihn völlig aus. Mit erhobenem Arm schien der Engel vor der Morgensonne zurückzuschrecken, als blicke er geradewegs in das strahlende Antlitz Gottes.
    Nachdem sich die drei Welten mit dem Ende der sechsten Welle wieder voneinander entfernt hatten, waren Franciscos besondere Gaben immer schwächer geworden. Er würde die nächste große Annäherung, wie er inzwischen aus Vicentes schriftlichem Nachlass wusste, nicht mehr erleben. Doch er empfand deswegen kein Bedauern, sein Verlust war ja durch die Träume mehr als wettgemacht worden. Möglicherweise offenbarte sich in ihnen ja sogar der Weg, über den sich schon in früheren Zeiten die Mitglieder der Unsichtbaren Pyramide miteinander ausgetauscht hatten, um gemeinsam das Gleichgewicht zwischen ihren Welten zu hüten. Manchmal lagen nur wenige Tage zwischen den Treffen mit seinen Brüdern, gelegentlich viele Woche. Ihnen verdankte Francisco seine Kenntnisse von Anx, der Welt, die nun von Pharao Topra und seiner Gemahlin Inukith aus der Dunkelheit jahrhundertelanger Tyrannei behutsam ins Licht eines friedlichen Miteinanders der Völker geführt wurde.
    Trevir verfolgte mit Dwinas Unterstützung das gleiche Ziel, nur mit anderen Mitteln. Als »Retter von Trimundus« war er – nicht zuletzt durch Featherbeard und das sich in alle Himmelsrichtungen auflösende Schwarze Heer – bald zu einer lebenden Legende geworden. Er hatte sein Idana gegebenes Versprechen eingelöst und war nach Annwn zurückgekehrt, sehr zur Freude der Kräuterfrau. Nach Trevirs Willen sollte der Dreierbund nicht länger eine zurückgezogen lebende Bruderschaft sein, sondern eine weltweite Bewegung werden, die sich der Bewahrung des Gleichgewichts verpflichtet fühlte. Um sich voll und ganz der von ihm und Dwina gegründeten »Akademie des Gleichgewichts« widmen zu können, schlug der junge Hüter sogar das ihm von den Bewohnern Annwns angetragene Amt des Schultheißen aus. In der Schule, die »jeder Frau und jedem Mann guten Willens« offen stand, wurden nicht nur die Lehren des Abacuck vermittelt, sondern auch und vor allem die Werte und Grundsätze, die das harmonische Zusammenwirken der Menschen von Trimundus stärkten.
    Francisco hatte sich bescheidenere Ziele gesetzt. Er konnte die Menschen nur aufrütteln, indem er an ihr Denkvermögen appellierte. Das geschriebene Wort schien ihm ein geeignetes Mittel dafür zu sein – Bücher hatte er schon immer geliebt. So war er nach Madrid gegangen und arbeitete seit dem Abschluss seines Geschichtsstudiums als Lektor bei einem Verlag in der Calle de O’Donnell 10. Inzwischen hatte er unter einem Pseudonym auch mit der Arbeit an einem eigenen Roman begonnen, in dem er die Geschichte dreier Jungen in drei verschiedenen Welten erzählte.
    Hobnaj war ebenfalls nach Madrid gezogen. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt hier als Experte für ägyptische Altertümer im Archäologischen Museum. Seine erstaunlichen Kenntnisse der altägyptischen Sprache wurden in Fachkreisen sehr geschätzt. Im Übrigen widmete sich der Nubier mit Hingabe seiner Rolle als Franciscos »Wahlvater«. Hobnajs unerfüllte Liebe zu Gisa fand so am Ende im Garten der Erinnerung einen stillen Platz, den er jederzeit aufsuchen konnte, wie man sich unter einem ehrwürdigen Baum niederlassen mag, der zwar keine Früchte mehr trägt, aber immer noch blüht. Regelmäßig besuchte der hünenhafte Wanderer zwischen den Welten seinen jungen Schützling in der Calle de Ayala. Hier konnte er sich über mangelnde Möglichkeiten zur Entfaltung seiner Fürsorglichkeit nicht beklagen, zumal sich für ihn in der ehemaligen Herrschaftswohnung vor etwa drei Jahren eine weitere Herausforderung ergeben hatte, die sich Francisco in diesem Moment unverkennbar bemerkbar machte.
    »Papa!«, rief die zarte Stimme.
    Er wandte den Blick von dem gefallenen Engel zum schnurgeraden Paseo de Cuba, der sich hinter dem Standbild in einer Senke verlor. Von dort kam ihm eine junge Mutter mit brünettem Haar entgegen. An ihrer Hand hüpfte ein kleiner, vor Begeisterung quietschender Junge, dessen strubbeliger Schopf fast schwarz war. Mit jedem Schritt tauchten die zwei weiter aus dem Parkweg auf. Francisco sprang von der Bank auf und rief: »Paolo!« Als wäre er selbst noch ein kleines Kind, rannte er
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