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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
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abergläubischen Gedanken an übernatürliche Zeichen waren in einem einzigen Augenblick weggewischt. Was Pedro auf der Wiese sah, widersprach so sehr allen seinen Erwartungen, dass er darüber sogar das Frieren vergaß.
    Vor ihm lag ein Kind, winzig wie ein Neugeborenes, umwabert von den schwachen Resten des blauen Lichts.
    Das Kleine war in helle Tücher gewickelt. Wie ein Schmetterling, der gerade seinem Kokon entschlüpfte, ragten daraus ein dicht behaartes Köpfchen und zwei kleine nackte Ärmchen hervor. Das Kind musste am Erfrieren sein.
    »Welcher Unmensch hat dich…?« Pedro verstummte, weil das Glühen erneut zunahm, jetzt sogar ihn wie ein bläulich strahlender Nebel umfing. Die winterliche Landschaft verwandelte sich unter seinen Augen in eine sonnige Herbstwiese, auf der bunt gefärbte Blätter im Wind tanzten; sogar die Luft wurde wärmer. Das Kind lag noch immer an derselben Stelle, aber über seinem Haupt befand sich eine Quelle, aus der – rotes Wasser sprudelte. Erschrocken riss Pedro den Kopf hoch, aber der Mond war nicht in Blut getaucht wie vor zwei Tagen noch. Als der Mönch den Blick wieder sinken ließ, zuckte er abermals zusammen. Die blumenübersäte Wiese war verschwunden.
    Nicht aber das Kind. Pedro sah es nun in einer Kammer. Boden, Wände und Decke bestanden aus Holz. An einem Balken hingen geräucherte Speckseiten. Überall standen riesige Tongefäße sowie eine größere Anzahl Säcke von grobem braunem Stoff. Direkt vor Pedros Füßen lag der Säugling in einem Bett aus gedroschenem Korn, dem Inhalt eines offenen, fast leeren Sacks. Drei kleine Flammen züngelten unruhig auf den Bohlen, ein Dreieck aus Licht, wie zum Schutz des Kindes um sein Lager herum aufgestellt.
    »Der Laderaum eines Segelschiffes!«, sprach Pedro leise aus, was ihm durch den Kopf ging. Er fühlte sich selbst in diese fremde Umgebung versetzt. Die Luft war schwül geworden. Schon begann er zu schwitzen. Unbehaglich blickte er sich um. Hinter ihm lag der weiß verhüllte Klostergarten von La Rábida im Mondlicht.
    Unvermittelt spürte der Mönch einen eisigen Windhauch und wandte sich wieder dem Kind zu. Diesmal zuckte er nur ein wenig zusammen. Der Säugling war noch da. Vom Schiff fehlte indes jede Spur. Auch das blaue Licht musste sich jeden Moment endgültig verflüchtigen, so schwach war es geworden. Dennoch bot der Winzling alles andere als einen normalen Anblick, so wie er dort lag, in einem Dreieck aus frischem, grünen Gras…
    »Heilige Mutter Gottes!«, stieß Pedro hervor, stolperte einige Schritte zurück und schlug zur Abwehr etwaiger böser Mächte ein drittes Kreuz.
    Schnell beruhigte er sich wieder. Nicht doch! Dies war kein Werk des Teufels, hier, direkt vor den Toren des Klosters. Vorsichtig schlich der Mönch wieder an das Kind heran. War der schneefreie Fleck vorher auch schon da gewesen? Das gleißende Licht mochte ihn überstrahlt haben, redete Pedro sich ein. Aber dann schüttelte er den Kopf. Nein, er war soeben Zeuge eines Wunders geworden. »Der Himmel hat uns ein Kind geschenkt«, flüsterte der Mönch ergriffen. Tränen rollten ihm über die Wangen, als er vor dem Bündel aus Tüchern langsam auf die Knie sank und ein stilles Gebet sprach.
    Der Kopf des Säuglings lag genau unter der Spitze des gleichschenkligen Dreiecks, auf dessen Basis ruhten die fest eingebundenen Füßchen. Was hatte den Schnee ausgerechnet in dieser Form schmelzen und was das Gras darunter vorzeitig grünen lassen? Pedro beugte sich über das Kind, wagte vor lauter Ehrfurcht aber nicht, es zu berühren. Da tropfte eine seiner Tränen auf das winzige Gesicht. Der Mönch hielt den Atem an.
    Das Kind stieß einen quietschenden Laut aus und lächelte. Pedro stutzte. Sind Neugeborene zu solchen Reaktionen überhaupt fähig? »Fast so, als hättest du mich erkannt«, murmelte er und sprach, ohne sich dessen bewusst zu sein, den Namen des Ordensgründers in seiner spanischen Form aus, »San Francisco.«
    War etwa Franz von Assisi – immerhin die Symbolfigur des Friedens – vom Himmel herabgestiegen, weil die Menschen so einen wie ihn…? Pedro schüttelte einmal mehr den Kopf. Was für ein absurder Gedanke für einen Katholiken! Die Reinkarnation gehörte zu den Domänen der Hindus und Buddhisten. Und außerdem: Was, wenn es ein Mädchen war?
    Das Kind unterbrach seinen inneren Disput durch ein zartes Quäken. Erst jetzt wurde dem Mönch bewusst, in welcher Gefahr es schweben musste. Erschrocken packte er das
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