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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
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sollte den Knaben besser nicht zu Gesicht bekommen. Als Beorns Blick eine grasbewachsene Lichtung streifte, hatte er eine Idee…
    Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu. Während Beorn sein ärmliches Gespann aus dem Feenwald herausführte, schien sein Schatten sich nicht von den Bäumen lösen zu wollen – immer länger wurde er. In der Nähe führte ein Lehmpfad vorbei. Weder dort noch auf den umliegenden Schafweiden war eine Menschenseele zu sehen. Aber Tolo hatte schon mehrmals unwillig geschnaubt. Der Böttcher war angespannt wie selten. Fahrig rückte er die Axt auf seiner Schulter zurecht. Bald erreichte er den gelbbraunen Pfad und folgte ihm Richtung Annwn. Nur einen Bogenschuss vom Waldsaum entfernt, musste er einen gebogenen Hohlweg durchqueren.
    Und dort traf er auf den dunklen Reiter.
    Der große Hengst stand quer zum Weg. In seinem Sattel saß ein wild aussehender Bursche, der sich lässig auf eine Lanze aus Ebenholz stützte. Das stumpfe Ende des langen Schafts hatte er in den Lehmboden gerammt, die Spitze funkelte silbrig neben seinem Ohr. Hinter der Schulter des Fremden ragte ein Schwertgriff hervor. Selbst im Sitzen konnte man ahnen, wie groß und ungemein kraftvoll dieser Mann war. Er trug schwarze Kleidung, sogar sein langes, strubbelig herabhängendes Haar und der wie von Motten zerfressene Vollbart waren von dieser Farbe. Einzig die rechteckigen Metallplatten auf seinem Wams gaben ihm etwas Glanz.
    Als er keine Anstalten machte, den Weg freizugeben, zügelte Beorn sein Pferd. Tolo schnaubte abermals und verlangsamte nur allmählich das Tempo. Er glotzte den nachtschwarzen Artgenossen und dessen Reiter an, als hätte er große Lust, die beiden über den Haufen zu rennen. »Ho!«, rief der Böttcher streng und riss heftig am Zaumzeug. Endlich bequemte sich Tolo stehen zu bleiben. Beorn bangte um das Kind auf dem Schleppgestell. Der Fremde durfte es auf keinen Fall sehen. War er ein Wegelagerer? Vermutlich. Warum sonst sollte er sich hier so aufbauen, dass man ihn erst im letzten Moment sah und dann unmöglich an ihm vorbeikommen konnte? Angriff ist die beste Verteidigung, dachte sich der Böttcher, und erhob selbstbewusst die Stimme.
    »Könnt Ihr Euch keinen anderen Platz zum Rasten aussuchen, Herr? Mein Hengst ist halb blind und neigt dazu, allzu plötzlich auftauchende Hindernisse in den Boden zu treten.«
    »Ihr habt gut daran getan, Euren wandelnden Fleischkloß rechtzeitig zu bändigen«, erwiderte der Mann auf dem Rappen kühl. Zur Unterstreichung seiner Worte senkte er die Lanzenspitze, bis sie genau auf Beorns Kopf zielte.
    »Habt Ihr Euch verirrt? Kann ich Euch helfen?«, schlug der einen etwas gemäßigteren Ton an. Zugleich wanderte seine Hand langsam den Axtstiel hinab, eine deutliche Warnung an sein Gegenüber.
    »Verirrt? Wohl kaum. Was die andere Sache betrifft – möglicherweise«, erwiderte der Fremde ruhig. Er schien nicht unbedingt auf einen Waffengang mit dem bulligen Dorfbewohner erpicht zu sein. Mit gerecktem Hals spähte er über Tolos breite Kruppe. »Was habt Ihr da auf Eurem Gestell? Man könnte glauben, das seien Grassoden.«
    »Warum fragt Ihr, wenn Ihr es doch seht?«
    »Ich kenne Leute, die im Wald Fasanen jagen, um ihren Bauch zu füllen. Andere sammeln Holz, weil sie Brot backen oder sich im Winter einfach nur ein warmes Feuerchen anzünden wollen. Aber weshalb sollte jemand Gras einsammeln?«
    »Ich wüsste nicht, was Euch das angeht«, antwortete Beorn verwegen und hatte gleich darauf das Gefühl, von zwei dunklen Augen regelrecht durchbohrt zu werden.
    Doch nach einer Weile lächelte der Reiter dünn, hob seine Lanze und gab den Weg frei. »Geht! Ihr scheint mir ein braver Mann zu sein und tapfer noch dazu: Wagt Euch allein mit Eurem Pferd in den Zauberwald und trotzt einem Krieger, der Euch weit überlegen ist.«
    »Manchmal trügt der Schein«, gab Beorn äußerlich ruhig zurück und setzte sich mit seinem Gespann in Bewegung. Als Tolo an dem Rappen vorbeitrottete, glotzte er seinen Artgenossen grimmig an.
    Schon hatten der Böttcher und sein Gaul den dunklen Reiter so gut wie passiert, als Letzterer plötzlich »Halt!« rief.
    Beorn erschauerte und zügelte abermals sein Pferd. Mit bangem Blick wandte er sich um.
    Der Krieger hatte sich im Sattel vorgebeugt und blickte neugierig auf die Grasmatten herab, die auf dem Schleppgestell einen kleinen Haufen bildeten. Der Fremde lächelte entschuldigend. »Vergebt einem neugierigen Mann, aber ich wüsste
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