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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
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täuschte, war das Geräusch aus Richtung der Blutquelle gekommen. Behutsam bewegte er sich durch das Unterholz. Er achtete streng darauf, keine trockenen Zweige zu zertreten oder andere verräterische Laute zu verursachen. Während er so vorrückte, durchkämmte er seine Erinnerungen nach Geschichten von erkälteten Feen. Ihm fiel keine ein. Aber wer hatte dann dieses dünne, winzige Niesen ausgestoßen? Vielleicht ein Tier, viel kleiner als der dicke Tolo?
    Endlich hatte der Böttcher freie Sicht auf die ihm nur allzu bekannte Lichtung, die an diesem milden Herbstnachmittag besonders verschwenderisch von der Sonne verwöhnt wurde. Ab und zu wirbelte der laue Wind einige bunte Blätter auf. Ein gleißendes Bündel gelber Strahlen fiel auf die Quelle und die sie umgebende, fast noch frühlingshaft grüne Wiese – und auf das Kind, das neben dem blutroten Wasser lag.
    Beorn staunte, wie er selten zuvor in seinem Leben über etwas gestaunt hatte. Sein Mund stand weit offen, die Augen glotzten, als habe er sie von Tolo ausgeborgt – diese Entdeckung erschien ihm wie ein unwirklicher Traum. Es musste ein Neugeborenes sein, so klein wie es war. Wer hatte es in seine weißen Tücher gewickelt und dort hingelegt? Eine verzweifelte Mutter vielleicht, die sich außerstande sah, ihr Kind aufzuziehen? Sie musste doch damit rechnen, dass es hier, in diesem verwunschenen Wald, verhungern oder von Wölfen zerrissen werden würde. Oder hatte sie geglaubt, die Feen würden es zu sich holen? Gerade wollte Beorn ins Freie treten, als ihm noch eine weitere Möglichkeit in den Sinn kam.
    Was, wenn es eine Falle war? Womöglich wollten die Feen ja ihn in ihr unterirdisches Reich locken. Gewiss wussten sie, dass er und Idana kinderlos waren. Seine Frau hatte längst das Alter überschritten, in dem sie auf Nachwuchs hoffen konnte. Das Herz verkrampfte sich in Beorns Brust. Was würde er dafür geben, so ein zartes Niesen in seiner Hütte zu hören!
    Wie auf Stichwort ließ das Bündel bei der Quelle ein weiteres Hatschi! ertönen.
    »Ach, was soll’s!«, polterte der stämmige Böttcher und trat unter den Bäumen hervor. Unbeirrt lief er nun auf den Säugling zu. Dabei sah er sich wachsam um, aber nirgends ließ sich eine Fee blicken. Im Gras gab es nicht einmal Fußspuren! Zwei-, dreimal kam es Beorn so vor, als triebe die Sonne ein seltsames Spiel mit ihm. Er glaubte eine Art Wetterleuchten zu sehen, das innerhalb des gelben Lichtdoms grünlich erstrahlte, jenseits seiner Ränder jedoch blau. In diesen merkwürdigen Schleiern aus Licht sah er einen Raum, dessen glatte Wände mit fremdartigen Bildern bemalt waren: Menschen, Tiere und Furcht erregende Ungeheuer, alle im Profil dargestellt. Einen Herzschlag lang erblickte er sogar die sich bewegenden Schemen zweier Frauen, die sich über das Neugeborene beugten.
    »Ein Feenkind!«, hauchte Beorn ergriffen. »Sie sind gekommen, um sich von ihm zu verabschieden.« Der Böttcher hatte sich nie für einen besonders mutigen Mann gehalten und in diesem Moment wäre er am liebsten davongelaufen. Aber was, wenn dieses Bündel Mensch ein Geschenk der Feen war? Er und Idana hatten oft um einen Sohn oder eine Tochter gebetet. Nein, er durfte jetzt nicht zaudern. Beherzt legte er die verbliebene Strecke zu dem im Gras liegenden Säugling zurück und kniete sich davor nieder.
    Das Kind sah völlig normal aus. Es hatte weder spitze Ohren noch violettfarbene Augen oder goldene Locken – nichts, was auch nur andeutungsweise auf eine feenhafte Abstammung schließen ließ. Einzig seine Haut wirkte für den hiesigen Menschenschlag ein wenig zu dunkel. Aus erstaunlich wachen, dunkelblauen Augen blickte es den Böttcher an und verzog sein Mündchen zu einem Lächeln.
    Damit verflüchtigten sich auch Beorns letzte Bedenken. »Du scheinst mir ein aufgewecktes Kerlchen zu sein«, sagte er leise und mit sanfter Stimme. »Oder haben wir es bei dir mit einer kleinen Prinzessin zu tun? Lass doch mal sehen.«
    Beorn war ein sehr praktischer Mann, der seine kräftigen Hände erstaunlich behutsam einsetzen konnte. Geschickt befreite er das Kind aus seinen Tüchern. Über sein Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. »Idana wird Freudensprünge machen: Die Feen haben uns einen Jungen geschenkt! So klein du auch bist, so wach und stark scheinst du mir zu sein – als wohnte die Kraft dreier Knaben in dir. Wir werden dich Trevir nennen. Was hältst du davon?«
    Das Kind gab einen unverständlichen Laut von
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