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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
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zwischen Daumen und Zeigefinger. Vor seinem inneren Auge erschien für Sekunden der von drei Öllampen schwach erleuchtete Laderaum eines Segelschiffes…
    »Heilige Maria!«, stieß Gaspar unvermittelt hervor. Er hatte das Kind beim Abwickeln der Tücher auf die Seite gedreht und dabei am linken Schulterblatt des Winzlings eine überraschende Entdeckung gemacht.
    »Heb es bitte hoch, damit ich mir die Sache genauer ansehen kann«, forderte Pedro den jungen Mann auf und zauberte unter seiner Kutte eine Lesebrille hervor. Gaspar schob behutsam seine Linke unter den Kopf des Kindes, das ihn dabei aufmerksam zu beobachten schien. Sodann hob er es mit beiden Händen hoch und lehnte es an seine Brust. Pedro beugte sich vor, um den Rücken des Säuglings im Bereich der linken Schulter eingehend zu untersuchen.
    »Ist es eine Verletzung?«, fragte Gaspar besorgt.
    Pedro schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts. Seine Fingerkuppen strichen sanft über das Mal. Es hob sich fühlbar von der bronzefarbenen Haut des Säuglings ab.
    »Aber es ist feuerrot!«, sagte Gaspar, als fürchte er um das Leben ihres kleinen Schützlings.
    »Nur keine Sorge«, beruhigte ihn Pedro. »Es ist ein Muttermal. Ein Blutschwamm, würde ich sagen. Allerdings ein höchst merkwürdiger.« Nie hatte der Wächter von La Rábida dergleichen gesehen. Am ehesten ließ sich das dunkelrote Feuermal mit einem Stoffband vergleichen, dessen Enden miteinander verbunden worden waren, nachdem man eine Seite halb verdreht hatte. Das Band bildete jedoch keinen Ring, sondern es war dreifach umgeschlagen, wodurch in seinem Innern die Umrisse einer Pyramide entstanden. Oder eines Dreiecks im Schnee!
    »Dann ist es also nicht gefährlich?«, drängte sich Gaspars Stimme in Pedros Bewusstsein.
    »Was…?« Der Guardian blinzelte hinter seiner Brille. Er maß Gaspars Frage erheblich mehr Gewicht zu, als der junge Mann ahnte. Kann ein so kleines, so hilfloses Geschöpf überhaupt Gefahr bedeuten? Pedro rang sich ein Lächeln ab. »Wir werden unseren Findling noch heute Nacht einem Arzt zeigen, aber ich denke, es gibt keinen Grund zur Sorge.«
    »Das ist noch nicht sicher«, meldete sich Josés Stimme von hinten.
    Pedro seufzte. »Ich hätte besser ein Drachenei finden sollen und nicht dieses Kind, das womöglich ein Mädchen ist. Schnell, lüfte den Schleier, Gaspar! Das geistige Heil unserer Brüder steht auf dem Spiel.«
    Der angehende Mönch machte sich wieder an die Arbeit und löste die letzten, kunstvollen Verschlingungen des erstaunlich langen Leinentuchs. »Gleich hab ich’s!«, murmelte er.
    Alle Umstehenden, der Guardian eingeschlossen, merkten auf. Über den Schultern der vorn Stehenden erschienen neugierige Gesichter. Einmütig fixierten die Mönche jene Körperregion des Säuglings, die Aufschluss über sein Geschlecht geben sollte.
    Gaspar legte die Nabelschnur frei, die sorgfältig mit einem indigofarbenen Faden abgebunden worden war. Sämtliche Kuttenträger hielten den Atem an. Und dann enthüllte Gaspar feierlich die Lenden des Kindes.
    Stille umfing die Bruderschaft. Ergriffenes Staunen. Einige aufgeregte Herzschläge später verschaffte sich Erleichterung Gehör. Hier wurde geseufzt, dort aufgeatmet. Für die weiter hinten Stehenden versuchte Gaspar die Entdeckung in Worte zu fassen.
    »Es hat ein… ein…«
    »Wir alle wissen, was das ist, mein Lieber«, unterbrach ihn Pedro und verkündete der Bruderschaft: »Es ist ein Junge!«
    Nun brach Jubel los. Mönche fielen sich um den Hals. Schultern wurden geklopft, als habe man gemeinsam eine schwere Geburt vollbracht. Gaspar erhielt Glückwünsche wie ein junger Vater.
    Nur Pedro blieb seltsam still. »Wir werden dich Francisco nennen, nach unserem Ordensgründer. Besser noch Francisco Serafin, weil du wie ein Engel strahlst«, sagte er leise. Niemand hörte ihn. Natürlich würde er die Polizei benachrichtigen müssen. Aber wenn das Kind ein Waise war oder sich keine Verwandten finden würden, dann sollte es hier aufwachsen, im Kloster. Der kleine Francisco war etwas Besonderes – das zu spüren bedurfte es keiner seherischen Gabe. Vielleicht sogar der wiedergeborene heilige Franz von Assisi? Wie auch immer. Er, Pedro, würde den Knaben aufziehen wie einen leiblichen Sohn.
    Der Wächter von La Rábida nahm seine Lesebrille ab und blickte verstohlen in die Runde seiner frohlockenden Brüder. Du liebst sie mit all ihren Schwächen, gestand er sich ein. Aber ihr Glaube ist manchmal so verletzbar.
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