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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
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sich, den Beorn als Zustimmung deutete. Plötzlich ertönte in seinem Rücken ein lautes Rascheln. Erschrocken fuhr er herum.
    Zwischen den golden schimmernden Blättern einer Buche glotzten ihm Tolos braune Augen entgegen.
    »Deine Neugier ist fast noch schlimmer als deine Gefräßigkeit«, lachte Beorn erleichtert auf- er hatte sich schon von Feenkriegerinnen umstellt gesehen. »Bleib brav da stehen, mein Alter, sonst zerreißt du noch das Schleppgestell.«
    Weil das Pferd jetzt eine gute Sicht auf die Lichtung hatte und nicht befürchten musste, etwas Wichtiges zu versäumen, gehorchte es dem Befehl seines Herrn.
    Beorn kniete sich neben die Blutquelle und hielt den Säugling wie sonst seine Getreideopfer mit ausgestreckten Händen über das unergründlich rote Wasser. Mit weihevoller Stimme sagte er: »Ich danke dir, Marynnwar, du Königin aller Feen, für deine großzügige Gabe und weihe dir das Leben dieses Knaben. Er soll dem Frieden dienen, nicht zwischen den Menschen von Trimundus allein – obwohl wir der Eintracht wahrlich bedürfen! –, sondern darüber hinaus zwischen meiner Welt und jener, von der ihr ihn zu uns gesandt habt. Sein Name sei Trevir, damit er mit der ›Kraft der Drei‹ die Harmonie unserer Völker zurückbringe.«
    Mit diesen feierlichen Worten ließ Beorn das Kind ins Wasser gleiten.
    Der Junge versank in dem blutroten Nass. Schnell verlor ihn der Böttcher aus den Augen.
    Beorns Herz begann heftig zu schlagen. Hatte er einen Fehler begangen? Mündliche Überlieferungen waren naturgemäß ebenso lückenhaft wie das Gebiss einer alten Kräuterfrau. Was, wenn sich irgendein verrückter Druide das zeremonielle Untertauchen in heiligem Wasser nur ausgedacht hatte, um sich wichtig zu machen? Dann wäre er, Beorn, die längste Zeit der brave Böttcher von Annwn gewesen. Seine Leichtgläubigkeit hätte ihn zum Mörder gemacht. Wer einen Menschen umbringt, muss selbst getötet werden – so lautete das Gesetz von Annwn.
    In diesem Moment sah Beorn einen hellen Schemen aus dem trüben Wasser aufsteigen. Einen Wimpernschlag lang zögerte er noch. Vielleicht hatten die Feen ja auch seine rituelle Handlung missverstanden und forderten nun das Kind zurück…?
    »Nein!«, schrie Beorn. »Geschenkt ist geschenkt. Er gehört Idana und mir.« Damit langte er in das Wasser und holte den jetzt dicht unter der Oberfläche schwebenden Knaben ans Sonnenlicht zurück.
    Trevir schrie. Seltsamerweise hustete er nicht. Vielleicht hatten die Feen ihm Mund und Nase zugehalten. Beorn wusste nicht, was er glauben sollte. Er drückte sich das Kind an die Brust, raffte die Leinentücher von der Wiese auf und rannte zu dem wartenden Pferd. Noch ehe er es erreicht hatte, rief er: »Lass uns hier verschwinden, Tolo. Wer weiß, ob die Herrinnen des Waldes es sich nicht doch noch anders überlegen.«
    Je näher Beorn dem Waldrand kam, desto mehr hellte sich seine Laune auf. Gleich hatte er es geschafft. Die Feen würden ihn ungeschoren ziehen lassen.
    Unvermittelt brachte er sein Pferd zum Stehen. Aber was war mit den Leuten im Dorf? Seine Nachbarn ahnten längst, woher er sein makelloses Eichenholz bezog, und machten sich ihre eigenen Gedanken dazu: Einige hielten ihn für verschroben, andere für lebensmüde. Doch was würden sie denken, wenn er jetzt mit einem Neugeborenen aufkreuzte anstatt mit einer Fuhre Holz?
    Tolo schnaubte nervös.
    »Was ist, mein Alter?«, fragte Beorn das Pferd. Die beiden kannten diesen Weg seit einem Dutzend Jahren. Wenn Tolo unruhig wurde, dann nicht ohne Grund. Das Kind auf dem Schleppgestell verhielt sich ruhig. Beorn hatte den Knaben wieder in die Tücher gewickelt, allerdings weniger kunstvoll und fest als zuvor. Trevirs Ärmchen waren frei und bewegten sich ohne Unterlass. Besonderen Gefallen schien er an seinen Händen gefunden zu haben.
    »Wir müssen dich verstecken. Irgendetwas ist in der Nähe, das Tolo beunruhigt«, erklärte Beorn dem Findelkind. Trevir gab einen quäkenden Laut von sich und widmete sich wieder der Betrachtung seiner zehn beweglichen Fingerchen.
    Unglücklich sah sich der Böttcher um. Er hätte wenigstens ein paar Eichenstämme aus dem Unterstand holen und daraus auf dem Schlitten ein Versteck bauen sollen. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Nein, womöglich hätte er damit das Kind erschlagen. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen, und zwar schnell. Irgendjemand streifte da herum und – egal ob es ein Nachbar oder ein Fremder war – dieser Jemand
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