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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
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seines erstaunlichen Funds. Dabei genoss er den glücklichen Ausdruck auf dem Gesicht seiner Frau, die das Kind an ihre Brust drückte, als wolle sie es nie mehr loslassen. Nichts sollte diesen wunderbaren Moment stören – schon gar nicht diese kleine Absonderlichkeit, die Beorn erst jetzt auf dem linken Schulterblatt des Säuglings entdeckte: ein rotes Feuermal, das wie ein verschlungenes Band aussah und in der Mitte ein vollkommenes Dreieck bildete.
    Die blaue Aura des Knaben spiegelte sich in Idanas feuchten Augen wider. Sie war seit dreißig Jahren mit Beorn verheiratet. Genauso lange wünschte sie sich schon ein Kind. Zuletzt hatte sie jede Hoffnung aufgegeben. Und nun wurde ihr größter Traum doch noch erfüllt. Eine ihrer Tränen tropfte dem Kind auf die Wange. Sein unruhiges Zappeln hörte sogleich auf und es betrachtete wie gebannt die Frau, die es in den Armen hielt.
    »Ich habe noch nie ein Neugeborenes mit so wachem Blick gesehen«, sagte Idana hingerissen.
    Beorn streichelte lächelnd ihre Wange. »Die Feen schenken uns Menschen ja auch nicht jeden Tag ein Kind.«
    »Du und deine Feen!« Idana lachte. »Was werden die Nachbarn dazu sagen, wenn wir plötzlich mit einem Sohn durchs Dorf spazieren?«
    »Sie brauchen nicht zu wissen, wo ich ihn entdeckt habe. Wir sagen ihnen nur, Trevir sei ein Findelkind. Davon gibt es in diesen Zeiten genug.«
    Idana nickte. »Es ist vielleicht besser, wenn du die Grassoden unauffällig verschwinden lässt.«
    Beorn kratzte sich am Kopf. »Du hast Recht. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Wo…?«
    »Schichte sie einfach in dem hohlen Baum auf. Den wolltest du sowieso fällen, bevor der Schnee ihn über unserem Haus zusammenbrechen lässt. Wenn du die Wurzeln ausgräbst, lässt du die Soden einfach in der Erde verschwinden.«
    Der Böttcher küsste seine Frau auf die Stirn. »Du warst schon immer ein kluges Mädchen. Geh nur schon ins Haus und kümmere dich um unseren Sohn. Ich werde inzwischen die Spuren verwischen.«
    Beorn und Idana umarmten sich. Trevir steckte zwischen ihnen und gab keinen Mucks von sich, fast so, als genieße er diesen Moment familiärer Geborgenheit. Dann löste sich Idana von ihrem Mann und schlich mit dem Kind ins Haus.
    Beorn machte sich mit einer Heugabel an die Arbeit. Das Baumloch lag auf der von der Hütte abgewandten Seite, wo ein natürlicher Erdbuckel das kleine Reich des Böttchers vor den neugierigen Blicken der Nachbarn schützte – ein ideales Versteck. Bald waren alle Grassoden im hohlen Stamm der alten Linde verborgen. Die Sonne hatte sich gerade hinter den Horizont geschlichen und ließ zum Abschied den Himmel in der Farbe des Blutes erglühen.
     
     
    Die Alarmglocke versetzte die Bewohner des Dorfes in Angst und Schrecken. Innerhalb kurzer Zeit war ganz Annwn auf den Beinen. Auch Beorn stürzte mit seiner Axt ins Freie, nachdem er Idana angewiesen hatte, beim Kind in der Hütte zu bleiben.
    Überall brannten Fackeln. Bewaffnete Männer und Frauen liefen zu ihren Posten beim Wehrzaun. Vor der Tür traf Beorn auf seinen Freund Helm, in dessen Faust ein schartiges Breitschwert lag. »Was ist los? Wieder so eine Räuberbande, die unsere Hühner stehlen will?«, fragte der Böttcher den Schmied.
    »Ich fürchte, diesmal sieht es schlimmer aus. Es ist Mologs Horde!«
    Beorn riss die Augen auf. Molog war der mächtigste, grausamste und gefürchtetste aller Kriegslords. »Bist du sicher? Zennor Quoit liegt sieben Tagesreisen von hier.«
    »Kürzlich hörte ich von einem Wanderer, Molog sei ein unruhiger Geist, den es nie lange in seiner Festung hält. Machen wir uns nichts vor, Beorn: Zennor Quoit ist nur das schwarze Herz einer Bestie, die in letzter Zeit immer schneller wächst. Bald wird ihr stinkender Leib das ganze Land in Schatten tauchen.«
    Der Böttcher ließ seinen Freund stehen und rannte zur Palisade. Als er durch eine Schießscharte auf das freie Weideland vor dem Dorf hinausblickte, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. So weit sein Auge reichte, erblickte er schwarze Krieger. Ganz Annwn war offenbar von diesen wilden Gesellen umzingelt, die… Beorn erstarrte.
    »Der dunkle Reiter!«, hauchte er. Der hünenhafte Krieger mit dem großen Ebenholzspeer war unverwechselbar. Es musste ein Kundschafter gewesen sein.
    »Was suchst du mit deiner Axt bei der Schießscharte, Beorn?« Helms Stimme drang wie durch einen dicken Vorhang in das Bewusstsein des Böttchers vor, der sich wie benommen zu seinem Freund
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