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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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Vorbemerkung
    Tokio von oben, in der Dämmerung. Auf der Erde blinken in alle Richtungen die Lichter - wie ein zweiter Sternenhimmel. Um die großen Bahnhöfe herum wachsen Galaxien von Wolkenkratzern aus der Ebene. Sie scheinen von innen zu glühen, während die Werbebildschirme an ihren Fassaden grün, blau und rot flackern. Die großen Verkehrsadern treten zwischen den dunkleren Wohnvierteln hervor wie Sternbilder.
    Das Beste ist: Dieser Blick kostet nichts. Oder fast nichts, denn ich stehe im obersten Stockwerk des örtlichen Rathauses in meinem Stadtteil Bunkyo. Zu dieser Aussichtsplattform kann jeder hinauffahren, der den Aufzug findet. Woanders zahlen Touristen zehn Euro für so einen Blick. Das Rathaus von Bunkyo liegt jedoch noch viel besser als die Empfehlungen der Reiseführer - die niedrig bebauten Wohnviertel ringsum geben den Blick über die Großstadtregion mit den weltweit meisten Einwohnern frei.
    Japans Hauptstadt hat kein Gravitationszentrum, das sie zusammenhält. In Richtung der Vergnügungsviertel schimmert es rötlich, aus der Überstundenhölle des Bankenviertels fauchen grellweiße Fassadenscheinwerfer. Wer über Tokio hinwegblickt, sieht einen ganzen Kosmos unter sich ausgebreitet.

    Manchmal genieße ich hier die Fernsicht, bevor ich auf dem Weg zu einem Termin in den Tunneln tief unter dem Gebäude in die U-Bahn steige.
    Als Junge wollte ich Astronaut werden. Da es bis zur Erforschung fremder Planeten wohl noch ein wenig dauern wird, mache ich das Nächstbeste und erkunde Japan. Als Korrespondent des Handelsblatts schreibe ich vor allem über die Wirtschaft des Landes. Aber ich tauche auch tief in die Hauptstadt ein mit ihren etwa 150 000 Bars und Restaurants, den neonhellen Einkaufsstraßen, aber auch dunklen Ecken. In diesem Buch möchte ich Sie dahin führen, wo Touristen in Japan für gewöhnlich nicht hinkommen, und Ihnen dieses Land in Geschichten beschreiben, die meinen tiefen Respekt für seine Bevölkerung, aber auch all das Verwunderliche und Wunderbare an diesem Land ausdrücken.

Vom ersten Umgang mit Japanern oder Die Laute des Erstaunens
    Tokio, das ist eine Klasse für sich. Als Weltmetropole ähnelt Japans Hauptstadt zwar durchaus New York oder Paris - vom Rest des Landes unterscheidet sie sich jedoch sehr. Das wahre Japan habe ich Jahre vor meinem Einsatz in Tokio bei einem Studienjahr in einer gottverlassenen Stadt auf dem Land kennengelernt. In Fukui war es zwar nicht sonderlich urban, dafür passierten aber umso skurrilere Dinge. Der Aufenthalt im ländlich-traditionellen Japan hat mir auch Gelegenheit gegeben, mich an die indirekte Ausdrucksweise der Japaner zu gewöhnen - die Laute des Erstaunens.

Tokio, 2009
    »Mayer-san kann das nicht essen«, erklärte Yamahira-san und zog mir den Topf weg. Ich hatte mir gerade von der Suppe nehmen wollen. »Da sind Eingeweide drin«, erklärte er den anderen vier Japanern. »Deutsche mögen so was nicht.«
    Ich machte einen enttäuschten Laut, während er mir den Griff zu der Tonschale mit schiefem Blick verwehrte. Eigentlich mochte ich Motsuni, eine dickflüssige Suppe aus Innereien. Ich verkniff mir meinen Protest jedoch. Yamahira-san
war fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Wenn ich jetzt darauf bestanden hätte, eben doch Darm und Niere zu mögen, dann würde er vor den anderen Japanern das Gesicht verlieren. Herr Yamahira hatte in Holland gearbeitet und galt als Experte für Europäer.
    Ich nickte also höflich, gab die Innereien auf und wollte mir stattdessen ein Scheibchen Sashimi von der Platte mit dem rohen Fisch nehmen.
    »Sei vorsichtig«, ermahnte mich Yamahira-san. »Du hast dir da ausgerechnet rohen Seeigel herausgepickt.«
    Auf genau den hatte ich es ja abgesehen. Glücklicherweise konnte ich rechtzeitig eines der schaumigen Scheibchen mit den Stäbchen aufpicken, bevor mir Yamahira-san die Schale wegzog.
    »Komischer Ausländer! Na ja, dann probier mal.« Er beobachtete mich beim Essen, als erwarte er im nächsten Augenblick einen Brechanfall.
    Der Abend drohte, schwierig zu werden. Schon beim Hereinkommen war der Kellner untröstlich gewesen, dass er keine englische Speisekarte hatte anbieten können. »Es gibt keine Entschuldigung für unsere Unzulänglichkeit. Aber wir haben für Ihren amerikanischen Gast keine englische Speisekarte«, sagte er an mir vorbei zu Yamahira.
    »Alles in Ordnung«, rief ich dem Mann auf Japanisch zu. »Solange Sie auch keine deutsche Karte haben, nehme ich einfach die japanische!«
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