Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
Bündel, riss es vom Boden hoch und hielt es mit ausgestreckten Armen vor sich. Dabei fielen einige Krümel ins Gras, Weizenkörner, wie Pedro im letzten Aufglimmen des blauen Lichts gerade noch erkennen konnte. Dann erlosch die Aura des Kindes ganz.
    Jetzt, da es sich kaum mehr von einem ganz normalen hilflosen Neugeborenen unterschied, wagte der Mönch endlich, das zitternde Bündel an seine Brust zu drücken. Ungeschickt legte er seinen braunen Umhang darum, damit es der Kälte wenigstens nicht völlig schutzlos ausgesetzt war. Ihm fehlte es an Erfahrung im Umgang mit so kleinen Menschen. Doch er gab sein Bestes. Mit sanfter Stimme sprach er auf das Findelkind ein.
    »Deine Ärmchen sind ja gar nicht kalt«, wunderte er sich. »Du hast bestimmt Hunger, was? Gleich sind wir im Kloster. Gleich bekommst du etwas Warmes zu essen, mein kleiner Francisco…« Pedro stockte. »Oder bist du eine Francisca?«
     
     
    In der Beherbergung außergewöhnlicher Gäste blickte das Monasterio de la Rábida auf eine lange Tradition zurück. Einst hatte Christoph Kolumbus hier Unterschlupf gefunden, der Entdecker der Neuen Welt. Und nun scharten sich die Franziskanermönche um den neuesten Besucher: ein zehn Pfund schweres Bündel Mensch, dessen Herkunft ein großes Rätsel war.
    Schon beim Durchschreiten der Klosterpforte hatte sich der Säugling durch ein dünnes Krähen bemerkbar gemacht. Die Nachricht von dem Findelkind verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Im Nu war Pedro umringt von seinen Mitbrüdern. Während er durch den Kreuzgang zur Krankenstation eilte, gesellten sich immer weitere Mönche hinzu. Und dann präsentierte er auf einer Untersuchungsliege sein »Mitbringsel« der versammelten Bruderschaft.
    »Es ist ein Kind!«, staunte Gaspar, ein junger Mann, der sich noch in seiner Ausbildungszeit, dem Juniorat, befand.
    Pedro bedachte den zukünftigen Mönch zu seiner Linken mit einem strengen Blick. »Was für eine tief schürfende Feststellung, mein Lieber!«
    »Wir müssen unbedingt herausfinden, ob es ein Junge ist!«, drängte eine Stimme aus dem Hintergrund.
    »Warum hast du es so eilig, Fra José?«, fragte Pedro zurück, obwohl er genau wusste, was den eifernden Mönch zu seiner Äußerung veranlasst hatte.
    »Wir sind eine Bruderschaft, kein Klarissenkloster. Wenn das Kleine ein Mädchen ist, dann…«
    »Dann wird unsere kleine Welt hier zusammenbrechen, willst du sagen?« Pedro lächelte traurig und schüttelte den Kopf. Seit acht Jahren diente er seinen Brüdern nun schon als Guardian, als ihr »Wächter«. Genauso lang predigte er ihnen Großmut, Barmherzigkeit und Ausgeglichenheit. Aber es war nicht leicht, in einer Kirche, die das starre Festhalten an Dogmen und Regeln zum Maßstab »echten Christentums« erhoben hatte, den Blick für das Wesentliche im Glaubensleben zu schärfen: die Liebe zu Gott und zum Nächsten. »Wir sind dabei, einem Neugeborenen das Leben zu retten, José. Wenn unsere Keuschheit durch ein so winziges Geschöpf ins Wanken gerät, dann steht es schlecht um sie. Und nun lass uns der Raterei ein Ende machen und das Kleine von seinen Tüchern befreien. An die Arbeit, Gaspar!« Die Aufforderung galt dem angehenden Mönch zu seiner Linken.
    »Warum ich?«, fragte der junge Mann erschrocken.
    »Weil du noch nicht unter dem Zölibat stehst.«
    Gaspar starrte seinen Guardian unsicher an. Pedros graue Augen verrieten keine Regung. Aber dann konnte er nicht länger ernst bleiben. Ein verschmitzter Ausdruck stahl sich auf sein Gesicht.
    »Das war ein Scherz, mein Lieber. Habe ich dich nicht gelehrt, dass alle Geschöpfe Spiegelbilder Gottes sind? Lass sie durchsichtig werden, bis sie des Allmächtigen Antlitz offenbaren – lauteten so nicht meine Worte?«
    Gaspar nickte scheu.
    »Und jetzt beantworte mir eine Frage: Sind auch Frauen Gottes Geschöpfe?«
    »Ja!«, antwortete Gaspar mit Nachdruck.
    Pedro deutete mit offener Hand auf den Säugling. »Dann solltest du dir die Chance nicht entgehen lassen, in das Angesicht unseres Herrn zu blicken.«
    Gaspar war der Zweitälteste aus einer Familie von acht Kindern aus dem nahe gelegenen Niebia. Er ließ wesentlich mehr Geschick im Umgang mit dem unruhigen Bündel erkennen als zuvor Pedro. Behutsam öffnete er das über der Brust des Säuglings eingeschlagene Tuch. Es bestand aus feinem, weißen Leinen. Einige Weizenkörner rieselten auf den grauen Kunstlederbezug der Untersuchungsliege. Pedro hob eine der Samenkapseln auf und drehte sie nachdenklich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher