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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide
Autoren: Ralf Isau
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Schritte hinter sich und gleich darauf Claras besorgt klingende Stimme in seinem Ohr.
    »Francisco?«
    »Ja?«
    »Da steht so ein schwarzer Riese und starrt uns an.«
    »Ich weiß, Liebling.«
    »Warum tut er das?«
    »Er will sehen, wie es mir geht. Alle guten Väter sind um ihre Söhne besorgt.«

 
    EPILOG
     
     
     
    Francisco pflegte diese Stunde zu genießen, morgens zwischen neun und zehn im Retiro-Park, wenn sich die Hitze noch nicht über Madrids Dächer gelegt und die schattigen Bänke in der ausgedehnten grünen Lunge der Stadt noch nicht gefüllt hatten. Gerne suchte er sich hier einen stillen Platz, um über die neuesten Buchideen seiner Autoren nachzudenken. An diesem Montagmorgen jedoch würde er seine »meditative Stunde« nicht mit dem Gang in die nahe gelegene Calle de O’Donnell beschließen, er war bereits in aller Frühe im Büro gewesen, um sich den Rest des Tages freizunehmen. Er hatte nämlich eine Verabredung im Retiro, am selben Treffpunkt wie zuletzt vor ziemlich genau zehn Jahren.
    Versonnen beobachtete er das Geschehen auf den asphaltierten Promenaden und sandigen Pfaden. Ein älteres Ehegespann – er in Anzug und Krawatte, sie im roten Hosenanzug – spazierte vorbei, Tauben gurrten, Jogger hechelten vorüber, zwei Polizisten patrouillierten in sportlich engem Outfit und mit windschnittigen Schutzhelmen auf ihren Fahrrädern, Liebespaare standen oder saßen eng umschlungen in lauschigen Winkeln – die Jardines del Buen Retiro zeigten sich von ihrer schönsten Seite. Francisco nahm indes all dies nur am Rande wahr.
    Er saß auf einer Bank im südlichen Teil der Plaza de Angel Caido, des »Platzes des gefallenen Engels«. Hier hatte er sich seinerzeit mit Vicente getroffen und von hier aus waren sie zu ihrer gemeinsamen Reise aufgebrochen, die fast in einer Katastrophe geendet hätte. Nachdenklich blickte er zu der Statue in der Mitte des runden Platzes hinüber. Ihr hoher weißer Sockel ragte aus einem Brunnen empor, Dämonenfratzen spien dem Betrachter Wasser entgegen. In seiner Verbannung dort oben war der schöne Engel eine Mahnung für alle, die der Vermessenheit anheim zu fallen drohten. Er sieht aus wie Vicente, dachte Francisco.
    Zwei Polizisten auf rotbraunen Pferden zogen vor seinen Augen vorbei. Ja, dieser Jüngling war nicht er, nicht der Novize, der dem Klosterleben vor zehn Jahren den Rücken gekehrt hatte. Es war Vicente. Vielleicht hatte der vermeintliche große Bruder diesen Treffpunkt damals mit Absicht ausgewählt, um in Francisco Schuldgefühle zu wecken, sich ihm als Retter in dunkler Stunde anzuempfehlen; möglicherweise aber auch, weil er, Vicente, sich selbst in der Rolle des gefallenen Engels erkannte. Fest stand jedenfalls, dass er seinen Besuch in der Hauptstadt dazu genutzt hatte, Bruder Pedro bei den Behörden anzuschwärzen. Glücklicherweise war der ehemalige Guardian von La Rábida längst wieder rehabilitiert und führte nun in einem anderen Kloster als gewöhnlicher Mönch ein Leben in stiller Abgeschiedenheit.
    Vicente hatte solchen Frieden wohl nie verspürt. Obwohl hochintelligent, war sein Geist verwirrt gewesen. Vieles von dem, was er seinem angeblichen »Bruderherz« angedichtet hatte, war in Wirklichkeit seine eigene verzerrte Lebensgeschichte gewesen.
    Pedro Alvarez hatte Vicentes Geburt zur rechten Zeit am rechten Ort, wie er meinte, planvoll herbeigeführt, um mit dem Kind das Mittel zur Verschmelzung des Multiversums in die Hand zu bekommen. Der Provinziale und Estefania waren Vicentes leibliche Eltern und nicht die von Francisco.
    Ihr Sohn stand mit seiner Vermessenheit aber nicht alleine da. »Es gibt viele gefallene Engel‹«, murmelte Francisco, während er eine Taube beobachtete, die auf Luzifers Flügelspitze balancierte. Isfet, der Pharao von Baqat, war der Versuchung erlegen, als Gott über das Drillingsuniversum zu herrschen, und auch Molog hatte das Triversum als größter aller Kriegslords regieren wollen. Francisco kannte beide aus seinen Träumen.
    Seit der Rettung aus der Kammer des Wissens sprachen seine beiden Drillingsbrüder aus den anderen Welten im Schlaf zu ihm. Diese sporadischen »Treffen« fanden auf Waldlichtungen, an Flussufern oder in Palästen statt. Bis gestern hatte sich Francisco oft gefragt, ob ihm seine Phantasie einen Streich spielte. Es gibt jedoch Momente im Leben, in denen man von einer Angelegenheit Gewissheit erlangt, ohne greifbare Beweise zu haben. Manche bezeichnen dieses unbeschreibliche Gefühl
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