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Gemma

Gemma

Titel: Gemma
Autoren: Petra Last
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Prolog

    Gemma!«
    Der Ruf hallte über die Wiese. Das Mädchen, das ruhig in der
ausladenden Krone der alten Eiche gesessen und mit einem Fernrohr das graue
Meer, das sich am Fuße der Klippe brach, beobachtet hatte, zuckte zusammen. Ihr
Kopf fuhr herum in Richtung des Mannes, der sie gerufen hatte.
    »Papa!« Mit fliegenden Röcken kletterte sie
flink wie ein Eichhörnchen den Baum hinab, nicht ohne zuvor sorgsam das
Fernglas zusammengeschoben zu haben, und rannte dem großgewachsenen Mann
entgegen. Mit einem Jauchzen warf sie sich in seine ausgebreiteten Arme und
klammerte sich an ihn.
    »Papa«, wisperte sie und drückte ihr kleines
Gesicht in seine Halsbeuge, während ihre Augen verdächtig feucht wurden.
    »Hey, was ist denn das? Tränen zur Begrüßung? Ich dachte, du freust
dich, mich zu sehen.«
    Gemma hob den Kopf und sah ihn an. Ihre blauen Augen schwammen in
Tränen, dennoch lächelte sie strahlend. »Du weißt doch, dass ich mich freue,
Papa«, schluchzte sie zwischen Lachen und Weinen, und presste ihren Kopf
wieder an seinen Hals. »Du weißt doch, wie sehr ich mich freue.«
    Ja, mein Schatz, das weiß ich, dachte Jeremiah Edwards
und drückte den Körper des Mädchens an sich. Den ganzen Weg nach Hause hatte er
die Ungeduld in sich gespürt, seine Tochter nach all den Monaten endlich wieder
in die Arme zu schließen. Jedes Mal, wenn er von einer seiner langen Reisen
zurückkehrte, freute er sich auf zu Hause, nur um nach einigen Wochen auf dem
festen Land erneut die Sehnsucht nach den Weiten des Meeres zu verspüren.
Dieses Mal würde es nicht anders sein, aber was zählte das jetzt schon? Alles,
was wichtig war, war das Kind, das sich so stürmisch in seine Arme geworfen
hatte.
    Seine Tochter. Für einen Augenblick hatte er geglaubt, ein Spuk
wolle ihn narren, als er sie sah, denn ihr himmelblaues Kleid und die wehenden
blonden Haare versetzten ihm einen Stich ins Herz, als er in Gedanken seine
Frau auf sich zulaufen sah, genauso ungestüm und genauso schön, jedes Mal,
wenn er nach Hause zurückgekehrt war.
    Damals.
    Und jedes Mal wieder hoffte er für einen
winzigen Moment, sie noch einmal in den Arm nehmen zu können, sie zu halten
und zu spüren und ihren süßen Duft einzuatmen. Was würde er darum geben, wenn
er zumindest die Möglichkeit erhalten hätte, sich von ihr zu verabschieden.
Aber nichts und niemand konnte sie ihm zurückbringen. Er war auf See gewesen,
als sie diese Erde verlassen hatte, zusammen mit den beiden Kindern, für deren
Geburt sie ihr Leben gelassen hatte, ohne sie dadurch jedoch retten zu können.
Alles, was ihm von ihr geblieben war, war seine Tochter. Seine Tochter, die
ihrer Mutter von Tag zu Tag ähnlicher sah.
    »Was meinst du, Gemma, wollen wir hier den ganzen Tag stehen und
uns umklammern, oder gehen wir rein und du siehst dir an, was ich dir
mitgebracht habe?«
    Gemma hob den Kopf und sah ihrem Vater ins bärtige Gesicht. »Was
hast du mir denn mitgebracht?«
    Er lächelte. »Wenn ich es dir sage, ist es ja keine Überraschung
mehr. Ich denke, du solltest es dir selber ansehen.« Er stellte sie auf die
Füße, und sie schob ihre kleine Hand zwischen
seine großen rauen Finger. Mit der anderen umklammerte sie noch immer ihr
Fernglas, das er ihr von einer seiner früheren Fahrten mitgebracht hatte und
das seitdem ihr kostbarster Besitz war. Jeden Tag und – wenn ihre Erzieherin es
nicht verboten hätte – sogar jede Nacht hielt sie damit Ausschau, ob nicht
irgendwo am Horizont Segel auftauchten, die vielleicht die jedes Mal so
sehnsüchtig erwartete Heimkehr ihres Vaters ankündigten.
    »Wie war die Fahrt, Papa?«, fragte Gemma mit mehr als kindlicher
Neugierde. Bereits vor einigen Jahren hatte sie ernsthaftes Interesse an seinen
Handelsfahrten bekundet und wurde es niemals müde, ihn über den Handel, die
Märkte und die fremden Länder, die er bereist hatte, auszufragen.
    »Sehr erfolgreich. Die Reederei ist
außerordentlich zufrieden mit den Waren, die wir mitgebracht haben. Alles
beste Qualität und wird den Eignern einen schönen Profit einbringen.«
    Gemma nickte, als sie seine Worte hörte. Sie wusste, dass ihr
Vater ein guter Kapitän war und zudem großes Geschick bei Verhandlungen aller
Art bewies. Sie war stolz auf ihn, und ihre Freude über die offene
Wertschätzung, die die Reederei, für die er das Schiff befehligte, ihm zollte,
wurde lediglich dadurch getrübt, dass seine Fähigkeiten ihn so oft in weit entfernte
Länder und somit weit weg von ihr
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