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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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    Hermann Mauser steht frühmorgens mit seinem Motorrad vor der Garage, dick vermummt im Lederanzug, denn es kann auch an einem Aprilmorgen noch Rauhreif haben. Hinter den Fenstern schauen die Leute ihm zu. Immer noch. Seit dreißig Jahren. Sie denken: Wann wird der endlich gescheit? Sie schauen ihm zu, wie er das Motorrad vom Ständer kippt, aufsitzt und den Schlüssel dreht. Sie hören den rasselnden Laut des Anlassers und dann das tiefe Bullern des Motors. Abgaswolken in der Morgenkälte.
    Viele sagen, Mauser sei ein verschrobener Kauz. Ein Eigenbrötler. Das stimmt. Schon immer gewesen. Er ist jetzt einundsechzig Jahre alt, seit dreißig Jahren ist er Grundschullehrer in Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb, unterrichtet Deutsch, Rechnen, Heimatkunde, Sachunterricht. Die Gegend kennt er wie kein anderer, weil er alles, was er lehrt, selbst nachgeprüft hat.
    Mauser legt den Gang ein und fährt los, die Dorfstraße entlang, um die Kurve, über die Brücke, wo im Schatten der Teer milchig ist vom Rauhreif, zur Lautertal-Schule. Heute, an Karsamstag, hat die Schule geschlossen. Mauser hat sich das Motorrad für seine nachmittäglichen Streifzüge gekauft. Der Kilometerzähler hat die Hunderttausend schon überschritten. Es schaukelt gemächlich in den Kurven, tuckert bei wenigen Umdrehungen vor sich hin und zieht kräftig von unten herauf. Die Maschine, denkt Mauser, ist wie ich. In bauernschlauer Untertreibung nennt er die Maschine »sein Moped«.
    Das Wetter ist sonnig, an den Hängen blühen Märzenbecher. Das Nachbardorf Hundersingen liegt noch im Talschatten. Hundersinger und Buttenhausener mögen sich nicht. Manche knurren zwischen den Zähnen etwas hervor, bevor sie einem den Rücken zukehren und abwinken, etwas Gehässiges, Altes, an das niemand gerne rührt: »Frag doch die Buttenhäuser Busfahrer, die wissen, wo’s qualmt!« Ein böses Wort. Man hört es selten. Aber man hört es.
    Mauser biegt ein auf die schmale Steige, die in die Feldflur hinaufführt. In der ersten Kehre stellt er ab, holt aus den Packtaschen eine Panzerfahrer-Kombination und Bundeswehrstiefel und zieht sich um. Einen Bauhelm mit Karbidlampe auf dem Kopf, steigt er in den Frühlingshang ein. Zwischen den kahlen Baumstämmen ist der Felsenkranz gut zu sehen. Bald hat er das Münzloch gefunden. Jetzt hält er sich rechts, klettert auf losem Schotter zwanzig Meter ab und sucht. Prüfend schaut er die Felsstotzen an und ihre Bankkalke. Weißjura Delta bis Zeta, nach Quenstedt. Dann entdeckt er den Eingang der Lehmkammerhöhle.
    Im Herbst vergangenen Jahres war er zum ersten Mal hier. Damals stand die Höhle voller Wasser. Heute ist es trockener. Den Südgang hat er schon gründlich untersucht. Dort geht es nicht weiter. Aber der Ostgang führt in eine kleine Halle, in der er aufrecht stehen kann. Im Strahl der Karbidlampe raucht der Lehmstaub. Vorsichtig klettert Mauser eine Gesteinsstufe hinunter und findet am Fuß der Hallenwand die Querspalte wieder. Auf dem Bauch quetscht er sich in die Röhre hinein. Den linken Arm vorgestreckt, schiebt er sich mit den Füßen vorwärts. Der rechte Arm liegt eng am Leib an, den Rucksack zieht er nach. Er muß den Hals mühsam recken, um etwas zu sehen. Der Gang wird so eng, daß der Stein ihn einklemmt. Nun muß er sich winden und die Schultern abwechselnd vorwärtsschieben. Die Luft füllt sich mit dem Staub und reizt zum Husten.
    Wie lang kriecht er so? Zehn Meter? Dann mündet der Gang in einen Spalt, dahinter öffnet sich eine zweite Halle. Jetzt erst wird es wirklich eng. Weil er hager und klein gewachsen ist, kommt er in jedes Loch hinein, in jede Spalte. Wenn der Oberkörper erst einmal drinnen ist, kommt es nur darauf an, die durchgestreckten Beine nachzuziehen. Mauser schwitzt, trotz der Kälte.
    Endlich kann er aufstehen und schaut sich um. Die zweite Halle ist schmaler als die erste, aber höher. Oben eine Galerie aus Sinter, wo die Druckrinne verlief. Und dort, unter einem wuchtigen Tropfstein, wölbt sich unauffällig, aber zu rund, zu glatt, eine Öffnung. Sie ist mit Lehm verstopft. Plombierung durch hereinflutenden Schlamm, denkt Mauser. Merkwürdig nur, daß es hier sonst keinen Schlamm gibt und auch nichts, woher er geflutet sein könnte.
    Mauser legt eine Pause ein. Macht sich Notizen, vermißt die Kammer. Jedes Geräusch klingt dumpf und erstickt. Die Halle liegt höher als die erste und damit über dem Karstwasserhorizont, deshalb haben sich seine Stiefelabdrücke vom Herbst
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