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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen
Autoren: Patricia Cornwell
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ich bei Cherry Hill ein, wo Scheinwerfer aufgestellt worden waren, weil das Licht der alten Straßenlampen an der Peripherie eines runden Platzes nicht ausreichte, der einst ein Wendeplatz für Kutschen und eine Pferdetränke gewesen war. Jetzt war der Platz von hohem Schnee bedeckt und mit gelbem Plastikband abgesperrt.
    Den Mittelpunkt dieser unheimlichen Szenerie bildete ein zum Teil vergoldeter, gußeiserner, nun vereister Brunnen, in dem, wie man uns versicherte, zu keiner Zeit des Jahres Wasser sprudelte. Hier war die nackte Leiche einer jungen Frau in sitzender Haltung gefunden worden. Sie war verstümmelt, und ich glaubte, daß Gault das diesmal nicht getan hatte, um Bißwunden zu entfernen, sondern um seine Signatur zu hinterlassen, damit wir den Künstler augenblicklich identifizieren konnten.
    Soweit wir im Augenblick wußten, hatte Gault sein jüngstes Opfer gezwungen, sich nackt auszuziehen und barfuß zu dem Brunnen zu gehen, wo heute morgen ihre steif gefrorene Leiche gefunden worden war. Er hatte ihr aus nächster Nähe in die rechte Schläfe geschossen und Hautstücke von der Innenseite der Oberschenkel und der linken Schulter entfernt. Zwei unterschiedliche Fußspuren führten zu dem Brunnen hin, nur eine davon weg. Das Blut der Frau, deren Namen wir nicht kannten, hatte helle Flecken im Schnee hinterlassen, und jenseits der Arena ihres schrecklichen Todes verschwamm der Central Park in dichten Schatten.
    Ich stand dicht neben Wesley, unsere Arme berührten sich, als ob wir die Wärme des anderen brauchten. Er sagte kein Wort, während er konzentriert die Fußspuren, den Brunnen und den fernen dunklen Ramble betrachtete. Ich spürte, wie sich seine Schulter hob, als er tief einatmete, dann lehnte er sich fast an mich.
    »Mein Gott«, murmelte Marino.
    »Hat man ihre Kleider gefunden?« fragte ich Commander Penn, obwohl ich die Antwort wußte.
    »Keine Spur davon.« Sie sah sich um. »Ihre Fußabdrücke sind erst von dort drüben, vom Rand des Platzes an die einer Barfüßigen.« Sie deutete auf eine Stelle ungefähr fünf Meter westlich des Brunnens. »Man kann genau erkennen, von wo an sie barfuß gegangen ist. Davor trug sie vermutlich Stiefel. Sohlen ohne Profil, aber mit Absatz. Cowboystiefel vielleicht.«
    »Und er?«
    »Wir können seine Spuren eventuell bis zu The Ramble verfolgen, aber das ist im Moment noch schwer zu sagen. Dort drüben gibt es so viele Spuren, und der Schnee ist an vielen Stellen verwischt.«
    »Also, die beiden verlassen das Museum of Natural History durch den Subway-Eingang, betreten den Park von Westen, gehen möglicherweise zu The Ramble, dann hierher.« Ich versuchte, die einzelnen Teile zusammenzusetzen. »Am Rand des Platzes zwingt er sie offenbar, sich auszuziehen, auch die Schuhe. Sie geht barfuß zum Brunnen, wo er sie mit einem Schuß in den Kopf tötet.«
    »So sieht es im Augenblick aus«, sagte ein stämmiger NYPD-Detective, der sich als T. L. O'Donnell vorstellte.
    »Wie kalt ist es?« fragte Wesley. »Oder besser gesagt: Wie kalt war es gestern am späten Abend?«
    »Gestern abend waren es knapp zwölf Grad minus«, sagte O'Donnell, ein zorniger junger Mann mit dichtem schwarzem Haar. »Im Wind waren es minus vierundzwanzig Grad.«
    »Und sie hat ihre Kleider und Schuhe ausgezogen«, sagte Wesley mehr zu sich selbst. »Das ist bizarr.«
    »Nicht, wenn einem jemand eine Pistole an den Kopf hält.« O'Donnell stampfte mit den Füßen auf. Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner dunkelblauen Polizeijacke, die bei dieser Kälte nicht genug wärmte, auch wenn man darunter eine kugelsichere Weste trug.
    »Wenn man gezwungen wird, sich in dieser Kälte auszuziehen«, sagte Wesley, »weiß man, daß man sterben wird.«
    Alle schwiegen.
    »Sonst würde man nicht gezwungen, Kleider und Schuhe auszuziehen. Allein daß man sich auszieht, widerspricht jeglichem Selbsterhaltungstrieb, denn nackt kann man hier nicht lange überleben.«
    Wir starrten schweigend auf den schauerlichen Brunnen. Der Schnee darin war rot gefleckt, und ich sah die Abdrücke, die von den nackten Pobacken des Opfers stammten. Das Blut war noch so hell wie zum Zeitpunkt ihres Todes, weil es gefroren war.
    »Warum, zum Teufel, ist sie nicht davongelaufen?« fragte Marino.
    Wesley wandte sich abrupt von mir ab und ging in die Hocke, um die Fußspuren zu inspizieren, die wir für Gaults hielten. »Das ist die Frage des Tages«, sagte er. »Warum ist sie nicht davongelaufen?«
    Ich ging neben
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