Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
fort.
    »Du hast weder einen Hund noch eine Hundehütte, und ich habe dir auch keine Decke angeboten. Warum gehen wir in diese Wohnung? Sie steht nicht auf der Liste.«
    »Das ist eine verdammt gute Frage.«
    Reporter, Polizisten, Sozialarbeiter drängten sich vor der Tür einer Wohnung, die aussah wie alle anderen in diesem Komplex, der an Betonbaracken erinnerte. Marino und ich zwängten uns an Kameras vorbei, an Scheinwerfern, die die Dunkelheit erhellten, und Sheriff Santa brüllte: »HO! HO! HO!«
    Als wir eintraten, setzte Santa sich gerade einen kleinen schwarzen Jungen aufs Knie und gab ihm ein paar in Geschenkpapier verpackte Spielsachen. Der Junge hieß Trevi und trug eine blaue Kappe mit einem Marihuanablatt auf dem Schirm. Seine Augen waren riesengroß, und er wirkte verwirrt auf dem samtenen roten Knie dieses Mannes. Daneben stand ein silberner, mit Lichtern geschmückter Baum. In dem überheizten kleinen Zimmer war kaum genug Luft zum Atmen, und es roch nach altem Fett.
    »Lassen Sie mich durch, Ma'am.« Ein Kameramann schubste mich aus dem Weg.
    »Stell sie dort drüben auf.«
    »Wer hat die restlichen Spielsachen?«
    »Ma'am, Sie müssen einen Schritt zurücktreten.« Der Kameramann warf mich praktisch um. Ich spürte, wie mein Blutdruck anstieg.
    »Wir brauchen noch eine Schachtel... «
    »Nein, nicht da. Dort drüben.«
    »Süßigkeiten? Okay. Hab verstanden.«
    »Wenn Sie Sozialarbeiterin sind», sagte der Kameramann zu mir, »warum stellen Sie sich dann nicht da drüben hin?«
    »Wenn Sie Augen im Kopf hätten, würden Sie sehen, daß sie keine Sozialarbeiterin ist.« Marino starrte ihn böse an.
    Eine alte Frau in einem sackartigen Kleid, die auf der Couch saß, fing jetzt an zu weinen. Ein hochrangiger Polizist in weißem Hemd und mit etlichen Auszeichnungen an der Jacke setzte sich neben sie, um sie zu trösten. Marino kam näher und flüsterte mir etwas zu.
    »Ihre Tochter wurde letzten Monat umgebracht, Nachname ist King. Erinnerst du dich an den Fall?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich erinnerte mich nicht. Es gab so viele Fälle.
    »Der Schmarotzer, von dem wir annehmen, daß er sie umgebracht hat, ist ein brutaler Drogendealer namens Jones«, fuhr er fort, um meinem Gedächtnis nachzuhelfen.
    Wieder schüttelte ich den Kopf. Es gab so viele brutale Drogendealer, und Jones war nicht gerade ein seltener Name.
    Der Kameramann filmte, und als Sheriff Santa mir aus glasigen Augen einen verächtlichen Blick zuwarf, wandte ich das Gesicht ab. Der Kameramann rempelte mich fast um.
    »Ich würde das nicht noch einmal tun«, warnte ich ihn in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, daß ich es ernst meinte.
    Die Journalisten hatten ihre Aufmerksamkeit der Großmutter zugewandt, denn sie war der Star des Abends. Jemand war ermordet worden, die Mutter des Opfers weinte, und Trevi war ein Waisenkind, und Sheriff Santa, der jetzt nicht mehr im Rampenlicht stand, setzte den Jungen ab.
    »Captain Marino, geben Sie mir eine von den Decken«, sagte eine Sozialarbeiterin.
    »Warum sind wir überhaupt hier?« fragte er sie und gab ihr den ganzen Stoß. »Können Sie mich vielleicht aufklären?«
    »Hier wohnt nur ein Kind«, sagte die Sozialarbeiterin. »Deswegen brauchen wir nur eine.« Sie tat so, als hätte Marino irgendwelche Instruktionen nicht befolgt, nahm eine zusammengefaltete Decke und reichte ihm den Rest zurück.
    »Hier sollten aber vier Kinder leben. Ich sage Ihnen doch, die Wohnung steht nicht auf der Liste«, murrte Marino.
    Ein Journalist kam auf mich zu. »Entschuldigen Sie, Dr. Scarpetta. Warum sind Sie heute abend hier? Rechnen Sie damit, daß jemand stirbt?«
    Er arbeitete für Richmonds Tageszeitung, die mich noch nie freundlich behandelt hatte. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht verstanden. Sheriff Santa verschwand in der Küche, was mir komisch vorkam, weil er schließlich nicht hier wohnte und auch nicht um Erlaubnis gefragt hatte. Aber die Großmutter auf der Couch war nicht in der Verfassung, zu bemerken, wohin er gegangen war, oder sich darüber zu wundern.
    Ich kniete mich neben Trevi, der allein auf dem Boden saß und seine neuen Spielsachen bestaunte. »Da hast du aber ein tolles Feuerwehrauto«, sagte ich zu ihm.
    »Es blinkt.« Er zeigte mir ein rotes Licht auf dem Dach des Autos, das blinkte, wenn er einen Schalter umlegte.
    Auch Marino setzte sich neben ihn. »Hast du auch Ersatzbatterien dafür gekriegt?« Er versuchte, mißmutig zu klingen, konnte die Anteilnahme in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher