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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen
Autoren: Patricia Cornwell
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    Der Abend des 24. Dezember war kalt, tückisches schwarzes Eis bedeckte die Straßen, Verbrechen knisterten über den Scanner. Es kam nur selten vor, daß ich nach Einbruch der Dunkelheit durch das Armenviertel von Richmond chauffiert wurde. Normalerweise saß ich selbst am Steuer. Normalerweise war ich die einsame Fahrerin des blauen Leichenwagens, mit dem ich die Schauplätze gewaltsamer, unerklärlicher Todesfälle aufsuchte. Aber heute abend saß ich auf dem Beifahrersitz eines Crown Victoria, Weihnachtslieder kamen über den Sender, Polizisten sprachen in Codes miteinander.
    »Sheriff Santa ist da vorne rechts abgebogen. Wahrscheinlich hat er sich verfahren«, sagte ich.
    »Tja, ich glaube, er ist high«, sagte Captain Pete Marino, der das Morddezernat dieses gewalttätigen Viertels leitete, durch das wir fuhren. »Schau dir seine Augen an, wenn wir das nächste Mal anhalten.«
    Es überraschte mich nicht. Sheriff Lamont Brown besaß einen Cadillac, trug schweren Goldschmuck und wurde von den Bürgern für die Rolle geliebt, die er im Augenblick spielte. Diejenigen von uns, die die Wahrheit kannten, wagten es nicht, auch nur ein Wort davon verlauten zu lassen. Schließlich ist es ein Sakrileg zu behaupten, es gebe den Weihnachtsmann nicht, aber im Falle dieses Santa Claus war der Heiligenschein eine unglaubliche Anmaßung. Sheriff Brown schnupfte Kokain und steckte jedes Jahr vermutlich die Hälfte dessen, was für die Armen gespendet wurde, in seine eigene Tasche. Er war Abschaum, und erst kürzlich hatte er dafür gesorgt, daß ich als Geschworene antreten mußte. Die Abneigung zwischen uns beruhte auf Gegenseitigkeit.
    Die Scheibenwischer quälten sich über das Glas. Schneeflocken streiften Marinos Wagen, wirbelten darauf zu wie scheue, in Weiß gekleidete, tanzende Mädchen. Sie schwärmten um Natriumdampflampen und wurden so schwarz wie das Eis, das die Straßen überzog. Es war bitterkalt. Die meisten Menschen in der Stadt waren zu Hause bei ihren Familien, lichtergeschmückte Bäume erhellten Fenster, in Kaminen prasselten Feuer. Karen Carpenter träumte von einer weißen Weihnacht, bis Marino ärgerlich einen anderen Sender suchte.
    »Vor Frauen, die Schlagzeug spielen, habe ich keinen Respekt.« Marino drückte den Zigarettenanzünder.
    »Karen Carpenter ist tot«, sagte ich, als ob sie das vor weiteren Beleidigungen schützte. »Und außerdem hat sie bei diesem Lied nicht Schlagzeug gespielt.«
    »Na klar.« Er zog eine Zigarette aus der Schachtel. »Stimmt. Sie hatte eine dieser Eßstörungen. Hab vergessen, wie das heißt.«
    Der Mormonen-Tabernakel-Chor stimmte ein Halleluja an. Am nächsten Morgen wollte ich nach Mia mi fliegen und meine Mutter, meine Schwester und Lucy, meine Nichte, besuchen. Meine Mutter war seit Wochen im Krankenhaus. Früher hatte sie soviel geraucht wie Marino. Ich kurbelte mein Fenster einen Spaltbreit herunter.
    »Und dann hat ihr Herz ausgesetzt - daran ist sie letztlich gestorben«, sagte er. »Daran stirbt letztlich jeder«, sagte ich. »Nicht hier in dieser Gegend. Hier sterben die Leute an Bleivergiftung.
    Wir fuhren zwischen zwei Streifenwagen - rote und blaue Lichter blinkten - in einem Korso von Polizisten, Reportern und Fernsehteams. Wann immer wir hielten, stellten die Vertreter der Medien ihren weihnachtlichen Eifer unter Beweis, indem sie sich mit Notizblöcken, Mikrophonen und Kameras vordrängten. Begeistert und überaus sentimental berichteten sie, wie Sheriff Santa, übers ganze Gesicht strahlend, vergessenen Kindern und ihren vor Angst neurotischen Müttern Geschenke und Lebensmittel überreichte. Marino und ich verteilten die Decken, die ich dieses Jahr spendete.
    Um die Ecke hielten die Wagen in der Magnolia Street vor einem Gebäudekomplex namens Whitcomb Court. Weiter vorn sah ich die leuchtendrote Kutte, als Santa durch das Scheinwerferlicht ging, gefolgt von Richmonds Polizeipräsidenten und anderen hohen Tieren. Fernsehkameras schwebten in der Luft wie Ufos, Blitzlichter explodierten.
    Marino beschwerte sich hinter einem Stapel Decken. »Diese Dinger riechen billig. Wo hast du die gekauft, in einer Tierhandlung?«
    »Sie wärmen, sind waschbar, und falls es brennt, verströmen sie keine giftigen Gase wie etwa Zyanid«, sagte ich.
    »Himmel, wenn einen das nicht in Feiertagsstimmung versetzt! « rief er aus.
    Während ich zum Fenster hinaussah, fragte ich mich, wo wir waren.
    »Ich würde sie nicht mal in meine Hundehütte legen«, fuhr Marino
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