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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen
Autoren: Patricia Cornwell
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Idee«, sagte ich. »Marino, sollen wir dir eine Tasse mitbringen?«
    »Nein.«
    Wir ließen ihn stehen und gingen zu einer kleinen Lounge. »Tut mir leid«, sagte Wesley leise. »Wir haben keine Wahl.«
    »Das weiß auch er. Der Zeitpunkt ist kein Zufall.« Er füllte zwei Styroporbecher. »Der Kaffee ist ziemlich stark.«
    »Je stärker, desto besser. Du siehst überarbeitet aus.«
    »Ich sehe immer so aus.«
    »Sind deine Kinder zu Weihnachten nach Hause gekommen?«
    »Ja. Alle sind da - außer mir natürlich.« Er starrte einen Augenblick lang ins Leere. »Seine Spiele eskalieren.«
    »Wenn es sich wieder um Gault handelt, stimme ich dir zu.«
    »Ich weiß, daß er es war«, sagte er mit einer ehernen Ruhe, die über seine Wut hinwegtäuschte. Wesley haßte Temple Brooks Gault. Wesley war zornig und bestürzt über Gaults bösartiges Genie.
    Der Kaffee war nicht sehr heiß, und wir tranken ihn schnell. Wesley ließ sich unsere Vertrautheit nicht anmerken, aber ich hatte gelernt, in seinen Augen zu lesen. Er verließ sich nicht auf Worte, und ich hatte ziemliches Geschick darin entwickelt, sein Schweigen zu deuten.
    »Komm«, sagte er und berührte mich am Ellbogen. Wir holten Marino ein, als er mit unseren Taschen zur Tür hinausging.
    Unser Pilot war Mitglied des Hostage Rescue Teams, des Geiselbefreiungsteams des FBI, HRT. Er trug einen schwarzen Fliegeranzug und beobachtete aufmerksam, was um ihn herum vorging, er sah uns an, um zu verstehen zu geben, daß er unsere Existenz zur Kenntnis nahm. Aber er winkte nicht, lächelte nicht und sagte auch kein Wort, als er uns die Hubschraubertüren öffnete. Wir duckten uns unter den Rotorblättern, und für den Rest meines Lebens würde ich den Lärm und den Wind mit Mord in Verbindung bringen. Es schien, als träfe das FBI, wann immer Gault zuschlug, in einem Mahlstrom aus wirbelnder Luft und glänzendem Metall ein, um mich abzuholen.
    Wir jagten ihn nun schon seit mehreren Jahren, und es war unmöglich, eine vollständige Liste seiner Untaten aufzustellen.
    Wir wußten nicht, wie viele Menschen er abgeschlachtet hatte, es waren mindestens fünf, darunter eine schwangere Frau, die früher für mich gearbeitet hatte, und ein 13 jähriger Junge namens Eddie Heath. Wir wußten nicht, wie viele Leben er mit seinen Machenschaften vergiftet hatte, aber meines gehörte mit Sicherheit dazu.
    Wesley saß hinter mir und hatte seine Kopfhörer aufgesetzt. Meine Lehne war zu hoch, um ihn sehen zu können, wenn ich mich umblickte. Die Lichter im Helikopter waren ausgeschaltet, und wir hoben langsam ab, legten uns seitlich und steuerten dann Richtung Nordosten. Über den Himmel trieben Wolken, und Gewässer schimmerten wie Spiegel in der Winternacht.
    »In was für einem Zustand ist sie?« hörte ich Marino plötzlich in meinem Kopfhörer.
    »Sie ist steif gefroren«, antwortete Wesley.
    »Das heißt, sie könnte seit Tagen tot sein, ohne daß der Verwesungsprozeß eingesetzt hat. Stimmt's, Doc?«
    »Wenn sie seit Tagen draußen liegt«, sagte ich, »wäre sie früher gefunden worden, sollte man annehmen.«
    »Wir glauben, daß sie gestern abend ermordet wurde«, sagte Wesley. »Sie war gut zu sehen, saß aufrecht, gelehnt an... «
    »Ja, so mag er es, der Irre. Das ist seine Art.«
    »Er setzt sie aufrecht hin oder tötet sie im Sitzen«, fuhr Wesley fort. »Bislang zumindest hat er das getan.«
    »Soweit wir wissen«, rief ich ihnen ins Gedächtnis.
    »Die Opfer, die wir kennen.«
    »Richtig. Sie saßen im Auto, auf einem Stuhl, an eine Mülltonne gelehnt.«
    »Der Junge in London.«
    »Ja, der nicht.«
    »Scheint, als wäre er direkt neben die Bahngleise geworfen worden.
    »Wir wissen nicht, wer ihn umgebracht hat.« Wesley wirkte überzeugt. »Ich glaube nicht, daß es Gault war.«
    »Warum, glaubt ihr, legt er Wert darauf, daß seine Opfer aufrecht sitzen?« fragte ich.
    »Damit wir wissen, daß er es war«, sagte Marino.
    »Verachtung, Hohn«, sagte Wesley. »Es ist seine Handschrift. Vermutlich gibt es eine tiefere Bedeutung.«
    Das vermutete auch ich. Alle Opfer Gaults wurden in sitzender Haltung gefunden, mit gesenktem Kopf, die Hände im Schoß oder schlaff an den Seiten herunterhängend, als wären sie Puppen. Die einzige Ausnahme war eine Gefängniswärterin namens Helen. Sie saß zwar in ihrer Uniform auf einem Stuhl, aber ihr Kopf fehlte.
    »Bestimmt hat die sitzende Haltung...«, begann ich, aber die von den Stimmen aktivierten Mikrophone funktionierten nie synchron
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