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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen
Autoren: Patricia Cornwell
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stieg.
    Ich betrat das Gebäude durch einen Seiteneingang und drückte auf einen Knopf an der Wand. Das Stahltor schwang quietschend auf, und der Krankenwagen passierte. Die Sanitäter öffneten die Hecktür, holten die Bahre heraus und schoben sie eine Rampe hinauf, während ich eine Tür aufschloß, die ins Innere des Leichenschauhauses führte.
    Die Neonröhren, die blassen Wände und der Kachelboden verliehen dem Korridor eine trügerische antiseptische Atmosphäre. An diesem Ort war nichts keimfrei. Angesichts sonst üblicher medizinischer Standards war es nicht einmal sauber.
    »Soll er in ein Kühlfach?« fragte mich ein Sanitäter.
    »Nein. Fahren Sie ihn in den Röntgenraum.« Ich schloß weitere Türen auf, die Bahre klapperte hinter mir, Blut tropfte auf die Bodenkacheln.
    »Sind Sie heute abend solo?« fragte ein Sanitäter, der wie ein Latino aussah.
    »Leider.«
    Ich knöpfte eine Plastikschürze auf, zog sie mir über den Kopf und hoffte, daß Marino bald käme. Im Umkleideraum nahm ich den grünen Chirurgenanzug von einem Regal, zog Schuhschoner und zwei Paar Handschuhe an.
    »Sollen wir Ihnen helfen, ihn auf den Tisch zu legen?« fragte ein Sanitäter.
    »Das wäre großartig.«
    »Los, heben wir ihn für den Doc auf den Tisch.«
    »Klar.«
    »Verdammt, dieser Sack hat auch ein Loch. Wir müssen neue besorgen.«
    »Wohin soll der Kopf? «
    »An dieses Ende.«
    »Auf den Rücken?«
    »Ja. Danke.«
    »Eins, zwei, drei und hoch.«
    Wir hoben Anthony Jones von der Bahre auf den Seziertisch, einer der Sanitäter wollte den Reißverschluß des Leichensacks aufziehen.
    »Nein, lassen Sie ihn drin«, sagte ich. »Ich will ihn erst röntgen.«
    »Wie lange wird das dauern?«
    »Nicht lange.«
    »Sie werden Hilfe brauchen, wenn Sie seine Lage verändern wollen.«
    »Ich nehme alle Hilfe an, die ich kriegen kann«, sagte ich zu ihnen.
    »Wir können noch ein paar Minuten hierbleiben. Wollten Sie das wirklich alles allein machen?«
    »Ich erwarte noch jemanden.«
    Kurz darauf schoben wir die Leiche in den Autopsieraum, und ich entkleidete sie. Die Sanitäter verabschiedeten sich, und im Leichenschauhaus waren nur noch die gewohnten Geräusche zu hören: Wasser, das in Waschbecken ablief, stählerne Instrumente, die klappernd gegen Stahl schlugen. Ich klemmte die Röntgenfilme an Leuchtkästen, wo sich mir die Schatten und Formen seiner Organe und Knochen offenbarten. Kugeln und eine Unmenge scharfkantiger Splitter hatten in Leber, Lunge, Herz und Gehirn wie ein tödlicher Schneesturm gewütet. In seiner linken Pobacke steckte eine alte Kugel, und sein rechter Oberarmknochen wies eine verheilte Fraktur auf. Mr. Jones war wie so viele meiner Patienten gestorben, wie er gelebt hatte.
    Ich brachte gerade den Y-förmigen Schnitt an, als jemand am Tor läutete. Ich machte weiter. Der Mann vom Sicherheitsdienst würde sich darum kümmern. Einige Augenblicke später hörte ich schwere Schritte auf dem Korridor, und Marino kam herein.
    »Ich wäre schon früher hier gewesen, wenn nicht alle Nachbarn beschlossen hätten, sich den Spaß anzusehen.«
    »Was für Nachbarn?« Ich blickte ihn verständnislos an, das Skalpell in der Hand.
    »Die Nachbarn von dem Schmarotzer in Whitcomb Court. Wir hatten Angst, daß es zu verdammten Unruhen kommt. Es hat sich in Windeseile herumgesprochen, daß ihn ein Polizist erschossen hat, ausgerechnet Sheriff Santa ihn auf dem Gewissen hat, und dann krochen die Leute aus den Ritzen im Asphalt.«
    Marino zog seinen Mantel aus und legte ihn über eine Stuhllehne. Er trug noch immer seine Uniform. »Sie standen überall herum mit ihren Zweiliterflaschen Pepsi und haben in die Kameras gelächelt. Hab meinen Augen nicht getraut.« Er zog eine Schachtel Marlboro aus seiner Hemdtasche.
    »Ich dachte, mit deiner Raucherei wäre es besser geworden«, sagte ich.
    »Ist es auch. Ich werde ständig besser.«
    »Marino, darüber macht man keine Witze.« Ich dachte an meine Mutter und ihre Tracheotomie. Emphyseme hatten sie nicht von ihrer Sucht kuriert, schließlich hatte die Atmung ausgesetzt.
    »Okay,« Er kam näher an den Tisch. »Ich sage dir die ganze Wahrheit. Ich rauche eine halbe Schachtel am Tag weniger. « Ich durchtrennte die Rippen und entfernte die Brustplatte. »Ich darf weder in Mollys Auto noch in ihrem Haus rauchen.«
    »Molly hat recht.« Molly war die Frau, mit der Marino seit Thanksgiving zusammen war. »Wie läuft es mit euch beiden?«
    »Wirklich gut.«
    »Verbringt ihr
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