Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
dazu.
    »Ich glaube, daß Marino ein hervorragender Polizist ist. Er ist unbestechlich, aufrecht, und er hat ein gutes Herz«, sagte ich.
    »Wollen Sie meine Frage beantworten oder nicht?« Tucker klang amüsiert.
    »Er ist kein Politiker.«
    »Daran besteht kein Zweifel.«
    Die Uhr am Turm der Main Street Station verkündete die Zeit von ihrer luftigen Höhe über dem alten Bahnhof mit seinem Terrakotta-Dach und dem Netzwerk von Gleisen. Hinter dem Consolidated Laboratory Building parkten wir auf dem für den Chief Medical Examiner reservierten Platz, einem unauffälligen Stück Asphalt, wo für gewöhnlich mein Auto stand.
    »Er widmet dem FBI zuviel Zeit«, sagte Tucker.
    »Er leistet dem FBI unschätzbare Dienste«, sagte ich.
    »Ja, ja, ich weiß das ebensogut wie Sie. Aber in seinem Fall führt das zu ernsthaften Problemen. Er ist verantwortlich für den ersten Bezirk und nicht für die Verbrechensaufklärung in anderen Städten. Und ich bemühe mich darum, daß meine Truppe funktioniert.«
    »Wenn es irgendwo zu Gewalttätigkeiten kommt, geht das alle etwas an. Gleichgültig, wo unser Bezirk oder unsere Behörde ist.«
    Tucker starrte nachdenklich auf das geschlossene Stahltor der Leichenwageneinfahrt vor uns. »Um nichts in der Welt könnte ich um diese Uhrzeit tun, was Sie tun, und niemand ist in der Nähe, nur die Leute in den Kühlfächern.«
    »Vor denen habe ich keine Angst«, stellte ich sachlich fest.
    »Es mag irrational sein, aber ich hätte eine Riesenangst vor ihnen.«
    Das Scheinwerferlicht fiel auf schmutzigen Verputz und Stahl, beide im gleichen langweiligen Beige. Ein rotes Schild an einer Seitentür informierte Besucher, daß alles, was sich dahinter befand, ein biologisches Risiko darstellte, und gab Instruktionen für den Umgang mit Leichen.
    »Ich muß Sie etwas fragen«, sagte Colonel Tucker.
    Der Wollstoff seiner Uniform rieb am Polster, als er seine Position veränderte und sich mir zuwandte. Ich roch Hermes. Er sah gut aus: hohe Wangenknochen, kräftige weiße Zähne, sein Körper strotzte vor Kraft unter der dunklen Haut.
    »Warum tun Sie es?« fragte er.
    »Warum tue ich was, Colonel?«
    Er lehnte sich in seinen Sitz zurück. »Sehen Sie«, sagte er, während Lichter über den Scanner tanzten. »Sie sind Anwältin. Sie sind Ärztin. Sie sind ein Chief, ich bin ein Chief. Deswegen frage ich. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
    Ich glaubte ihm. »Ich weiß es nicht«, gestand ich.
    Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Mein Vater war Rangierarbeiter, meine Mutter putzte die Häuser reicher Leute in Baltimore.« Er hielt inne. »Wenn ich jetzt nach Baltimore fahre, wohne ich in teuren Hotels und esse in Restaurants im Hafen. Man salutiert vor mir. In manchen Briefen werde ich >The Honorable< angeredet. Ich habe ein Haus in Windsor Farms. Ich befehlige in Ihrer gewalttätigen Stadt mehr als sechshundert Menschen, die Waffen tragen. Ich weiß, warum ich tue, was ich tue, Dr. Scarpetta. Ich tue es, weil ich als Junge keine Macht besaß. Ich lebte mit Menschen zusammen, die keine Macht besaßen, und ich lernte, daß all das Böse, über das in der Kirche gepredigt wurde, im Mißbrauch dieser Macht wurzelt, die ich nicht besaß.«
    Dichte und Choreographie des Schneefalls waren unverändert. Ich sah zu, wie der Schnee langsam die Motorhaube seines Wagens bedeckte.
    »Colonel Tucker«, sagte ich, »morgen ist Weihnachten, und Sheriff Santa hat vermutlich in Whitcomb Court gerade einen Menschen erschossen. Die Medien sind am Durchdrehen. Was raten Sie mir?«
    »Ich werde die ganze Nacht im Präsidium sein. Ich werde dafür sorgen, daß dieses Gebäude überwacht wird. Wollen Sie Polizeischutz für den Nachhauseweg?«
    »Ich denke, Marino bringt mich nach Hause, aber wenn ich zu der Ansicht gelange, daß zusätzlicher Schutz nötig ist, werde ich Sie auf alle Fälle anrufen. Sie sollten sich darüber im klaren sein, daß die Situation weiter kompliziert wird durch die Tatsache, daß Brown mich haßt und ich jetzt eine wichtige Zeugin in seinem Fall bin.«
    »Wenn nur alle von uns soviel Glück hätten.«
    »Ich habe nicht das Gefühl, Glück gehabt zu haben.«
    »Sie haben recht.« Er seufzte. »Das hat nichts mit Glück zu tun.«
    »Hier kommt mein Fall«, sagte ich, als der Krankenwagen auf den Parkplatz fuhr, ohne Blaulicht und Sirene, denn es gibt keinen Grund zur Eile, wenn Tote transportiert werden.
    »Frohe Weihnachten, Chief Scarpetta«, sagte Tucker, als ich aus seinem Wagen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher