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Blinde Wut

Blinde Wut

Titel: Blinde Wut
Autoren: Peter Scheibler
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I
     
     
     
    Der Tag hatte mit Sonnenschein begonnen. Es war ein ganz normaler Dienstag im Juli. Am Nachmittag hatte der Himmel sich bezogen und es war schwül geworden. Alle hatten damit gerechnet, daß das Gewitter am frühen Abend niedergehen würde, aber auch jetzt, kurz vor elf Uhr in der Nacht, lag es noch immer in der Luft und narrte die Menschen, vor allem die wetterfühligen.
    Auf Max Kronbeck übten Gewitter, besonders wenn sie knapp vor der Entladung standen, eine euphorisierende Wirkung aus. Ein merkwürdiges Kribbeln meldete sich in der Magengegend, und wenn er dann tief einatmete, hatte er das Gefühl, sich weit zu öffnen und ihm war, als könnte er die ganze Welt umarmen. Dabei war es eigentlich nur Anne, die er umfassen, in die er eindringen, mit der er dieses Hochgefühl gemeinsam erleben wollte. Aber Anne fürchtete sich vor Blitz und Donner und konnte, wenn ein Gewitter ewig nicht vorüberziehen wollte, regelrecht in Panik geraten. Sex und Gewitter waren für sie zwei Begriffe, die so wenig zusammenpaßten wie Feuer und Wasser, obwohl sie grundsätzlich und bei anderer Wetterlage nicht wenig Spaß an ersterem hatte.
    Seit ihrer Heirat vor zweiundzwanzig Jahren träumte Max nun schon davon, einmal während eines Gewitters mit Anne zu schlafen, und wenn man es genau nimmt, währte dieser Traum noch länger, denn sie hatten sich drei Jahre vor der Hochzeit kennengelernt, und da hatte es auch schon das eine oder andere Gewitter gegeben.
    Max sah zu Anne hinüber. Sie war immer noch sehr attraktiv, auch wenn sie hin und wieder ebenso unauffällig wie diskret zu gewissen Tricks greifen mußte, um diesen Zustand zu erhalten. Als er sie kennenlernte, war sie eine Schönheit, und bis zum heutigen Tag war es Max rätselhaft, warum sie sich ausgerechnet für ihn entschieden hatte. Eine Frage, die gelegentlich selbstquälerische Zweifel auslöste, denen schubweise Anfälle von Eifersucht folgten.
    Einmal hatte er versucht, mit Anne über diese Gefühle zu reden, aber sie hatte ihn nur ausgelacht. Sie hatte darauf bestanden, keine Schönheit zu sein, und mit geradezu masochistischer Lust auf all jene körperlichen Mängel hingewiesen, die nicht mit dem Begriff der Schönheit zu vereinbaren wären: Nase und Busen seien zu klein, Mund und Hüften zu breit, Hals und Beine zu kurz, Füße und Hände zu groß und außerdem habe sie Segelohren, ganz abgesehen davon, daß zu ihren brünetten Haaren viel besser braune Augen passen würden als ihre grüngraublauen. Wenn diese Einzelheiten sich zu einem Bild zusammenfügten, dem Max das Prädikat Schönheit verleihe, sei das sein Problem, mit der Wirklichkeit habe das nichts zu tun.
    Max hatte sich damit zufriedengegeben, obwohl er sich durchaus bewußt war, daß die meisten Männer seine Sichtweise teilten, und er hatte Annes Einschätzung als einen Versuch hingenommen, ihn zu beruhigen. Um ihre Selbstverleugnung nicht zu strapazieren, war er nie wieder auf dieses Thema zurückgekommen.
    Anne lag auf der Couch. Sie war vor dem Fernseher eingeschlafen, und das, obwohl Max das Gerät schon vor einer Weile lauter gestellt hatte, um die häßlichen Stimmen eines Streits zu übertönen, die von der Wohnung der Däublers, ihrer unmittelbaren Nachbarn, zu ihnen gedrungen waren. Die Tagesthemen waren gerade vorbei, Max hatte noch den Wetterbericht mitbekommen, der für morgen trockenere Luft angekündigt hatte und ein Nachlassen der Gewittertätigkeit. Die blonde Ansagerin wies jetzt mit einem Lächeln auf einen Spielfilm hin, den Max sich bestimmt nicht mehr anschauen würde.
    Er dachte schon daran, das Gerät auszuschalten und den Stecker zu ziehen, damit es ihnen nicht erging wie den Reicherts aus dem zweiten Stock, denen im vergangenen Jahr bei einem Gewitter der Fernseher explodiert war. Da besann er sich darauf, daß die plötzliche Stille Anne unweigerlich aufwecken würde. Ihre Angst vor dem Gewitter würde ihm die euphorische Stimmung verderben. Weil er dieses Hochgefühl noch ein wenig auskosten wollte, beschloß er, Annes Gesicht zu betrachten und sich von dem laufenden Fernsehprogramm nicht stören zu lassen.
    Der Wechsel von den Tagesthemen zum Spielfilm hatte Annes Schlaf nichts anhaben können. Tief atmend lag sie da, ihre Züge waren entspannt und um ihre leicht geöffneten Lippen spielte die Andeutung eines Lächelns. Ihr Anblick erregte ihn, und die Hoffnung, sein langgehegter Traum könnte sich hier und heute noch erfüllen, meldete sich ganz, ganz leise.
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