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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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sagte lediglich:
    »Gepriesen sei ihre Tapferkeit! Jetzt braucht sie erst einmal 357
    Ruhe.«
    Die ganze Zeit über war Longsela nicht von unserer Seite gewichen. Die Anwesenheit des kleinen Mädchens hatte etwas Tröstendes. Atan hatte ihr meinen Rucksack anvertraut; dass sie bei uns bleiben konnte, schien sie als etwas Selbstverständliches anzusehen. Den kleinen Hund hatte sie ihrem Vater überlassen, mit der Bitte, ihn gut zu pflegen.
    Die Höhle, in die Paldor Lhakyi uns führte, war zuerst eng und finster, doch nach ein paar Schritten weitete sich der Gang. Das rötliche Licht kleiner Butterlampen flackerte auf sorgfältig gezimmerten Altären aus schönem Nussbaumholz. Das Gewölbe strahlte einen farbigen Glanz aus, wie der ferne Schimmer eines Regenbogens. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnten, sah ich, dass die Wände mit Thankas bedeckt waren: Die Rollbilder aus Brokat, mit Goldfäden und Edelsteinen bestickt, zeigten Götter und Göttinnen, Erleuchtete und Weise, Tiere und Blumen dieser Welt und die Landschaften des Paradieses. Solche Kunstwerke schmückten früher Klöster und Heiligtümer, bevor die Roten Garden sie in ihrer Zerstörungswut raubten und verbrannten. Die Pflanzenfarben, die damals in Gebrauch waren, hatten ihre Leuchtkraft auf erstaunliche Weise bewahrt. Besonders wertvolle Stücke waren mit Schutzschleiern versehen, die oberhalb des Bildes wie Vorhänge gerafft waren.
    Beim Weitergehen zeigte sich, dass die Grotte aus verschiedenen Räumen bestand. Bretter, über finstere Abgründe gespannt, erlaubten uns, von einer Höhle in die andere zu gelangen. Unsere Schatten glitten über die Wände, löschten jeweils für ein paar Atemzüge die märchenhaften Farben. Auf grobgezimmerten Regalen stapelten sich alte Schriftrollen und Bücher, in Leder eingefasst oder in Seidentücher eingewickelt. Ich sah auch einen gewaltigen Webstuhl, Schlafsäcke, große Mengen muffig riechender Wolldecken, Körbe voller Lebensmittel und ein altmodisches Funkgerät. In einem Gewölbe, wo die Felsen, weit bis ins Dunkle hinauf, eine Art Kuppel bildeten, war eine Statue gemeißelt. Der Körper der Statue, so groß wie drei Menschen, füllte die Höhle völlig aus; es war, als trete er aus dem befreundeten Stein, an den er sich lehnte. Der gewaltige Kopf des Buddhas nahm die ganze Kuppel ein, schaute sanft und von fern auf uns herab, wie der Himmel auf die Erde herabschaut. Sein Oval war friedlich, das Gesicht leuchtete lebendig im Halbschatten und die Hand war in der Geste der Verklärung erhoben. Vor der 358
    Statue standen große und kleinere Gebetsmühlen, Vasen voller frischer Blumen und mehrere Reihen Silberkelche, gefüllt mit frischer, flüssiger Butter, in denen die Dochte schwammen. Das ewige Licht berührte die Glieder der Statue, als ob sie den Schimmer ihres inneren Lebens preisgab wie ein Geheimnis. Hinter dem Standbild befand sich eine kleine Kammer; dort war es, wo Atan und Paldor Lhakyi Kunsang behutsam auf ein Lager betteten. Ein Novize hatte ein Feuer entfacht. Der Rauch zog durch ein Felsloch ab, das auf halber Höhe einen handtellergroßen hellen Fleck an die Wand warf. Kunsang stöhnte, bewegte zuckend ihre Hände. Ich fühlte ihren Puls, zuerst am rechten, dann am linken Handgelenk. Nach einer Weile öffnete Kunsang die Augen, aber nur einen Spalt. Sie wollte etwas sagen, aber ich schüttelte den Kopf.
    »Nicht sprechen, Kunsang!«
    Ich sah, dass Atan die Augen auf sie gerichtet hielt, und blickte ihn bedeutungsvoll an. Sein Gesicht erstarrte. Paldor Lhakyi legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. Beide Männer entfernten sich.
    Ich strich über Kunsangs Stirn und spürte den klebrigen Schweiß.
    Vorsichtig begann ich ihre Jacke aufzuknöpfen. Der blutgetränkte Verband klebte am Körper. Ich streckte die Hand nach meinem Rucksack aus, den Longsela mir reichte. Als ich behutsam den Verband aufschnitt, knirschte Kunsang mit den Zähnen. An ihren Lippen klebte klebriger Schaum. Ich deckte die Verletzte zu, um sie warm zu halten, und bat den Gehilfen beim Feuer um warmes Wasser. Inzwischen gab ich Kunsang eine schmerzlindernde Injektion.
    Eine Weile verging, bis sich ihr blasses Gesicht entspannte. Ich fühlte abermals ihren Puls, horchte auf das Blut, auf den inneren Rhythmus. Kunsangs Augenlider sanken herab; jetzt lagen ihre Finger offen und unverkrampft da. Ich schob ihr eine Decke unter den Kopf und blickte zu Longsela hinüber, die still neben dem Lager kauerte.
    »Sie hatte
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