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Bookman - Das ewige Empire 1

Bookman - Das ewige Empire 1

Titel: Bookman - Das ewige Empire 1
Autoren: Lavie Tidhar
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1
Orphan
    Unter der Waterloo Bridge Gilgamesch schlief,
Gehüllt in Dunkelheit und das schwache Licht der Sterne,
Matt atmend im Nebeldunst:
    Er träumte von Ur – und von Fischen,
Brutzelnd auf offenem Feuer,
    Und vom Dufte des Frühlings.
    L. T., Das Epos von Gilgamesch
    Orphan ging zum Uferdamm der Themse hinunter, um den alten
Mann zu besuchen, der, in eine Pferdedecke gehüllt, einsam und allein unter der
Waterloo Bridge saß. Neben ihm brannte ein kleines Feuer, in den behandschuhten
Händen hielt er eine Angel, deren Schnur in das dunkle Wasser des Flusses hing.
Obwohl Orphan sich leise näherte, folgten die blinden Augen des alten Mannes
jeder seiner Bewegungen. Orphan ließ sich neben Gilgamesch auf dem harten
Steinboden nieder und wärmte sich die Hände am Feuer. In der Ferne stieg der
Gesang der Wale zur untergehenden Sonne auf.
    Eine Weile herrschte Schweigen. »Hast du etwas gefangen?«, fragte
Orphan schließlich.
    Gilgamesch seufzte und schüttelte den Kopf. Seine langen grauen
Haare waren zu verfilzten Strähnen verschlungen, die ein trockenes Rascheln von
sich gaben, als sie sich hin- und herbewegten. »Unerbittlich wandeln sich die
Dinge«, orakelte er.
    Orphan seufzte ebenfalls. »Ja, ja, aber
hast du was gefangen?«
    Â»Wenn ich das hätte«, erwiderte Gilgamesch, »würde es jetzt über dem
Feuer brutzeln.«
    Â»Ich habe Brot mitgebracht«, sagte Orphan und griff in seinen
Beutel, aus dem er wie ein Zauberer einen Laib Brot und eine Flasche Wein
hervorholte, beides in Zeitungspapier eingewickelt. Die Flasche stellte er
vorsichtig neben sich auf den Boden.
    Â»Rotwein?«, fragte Gilgamesch.
    Statt zu antworten entkorkte Orphan den Wein, dessen Aroma in die
kalte Luft aufstieg.
    Â»Aah …«
    Gilgamesch brach mit seinen braunen Fingern ein Stück Brot ab und
schob es sich in den Mund. Dann trank er einen Schluck Wein. »Château des
Rêves«, stellte er anerkennend fest. »Wo hast du den denn her?«
    Â»Gestohlen«, gestand Orphan.
    Der alte Mann richtete seine blinden Augen auf Orphan und nickte
bedächtig. »Gewiss«, sagte er, »aber wo, mein Junge?«
    Verlegen zuckte Orphan die Achseln. »In Mr. Eliots Weinladen in der
Gloucester Road. Warum?«
    Â»Das ist ein langer Weg, um eine Flasche Rotwein zu besorgen«, sagte
Gilgamesch, als rezitierte er ein halb vergessenes Gedicht. »Ich freue mich
zwar über dein Kommen, möchte aber bezweifeln, dass du mich aus reiner
Höflichkeit besuchst. Also, was willst du?«, fragte er, während er Orphan mit
seinen toten Augen fixierte.
    Dieser lächelte. »Ich glaube«, erwiderte er, »heute Abend ist es so
weit.«
    Â»Tatsächlich?« Die Augen des alten Mannes wandten sich ab, seine
Hände tasteten nach der festgeklemmten Angel und widmeten sich dann wieder dem
Brot. »Lucy?«
    Orphan lächelte von Neuem. »Lucy«, bestätigte er.
    Â»Du willst sie also fragen?«
    Â»Ja.«
    Gilgamesch lächelte, und ein wehmütiger Ausdruck huschte über sein
Gesicht. »Aber ihr seid beide noch so jung …«
    Â»Ich liebe sie«, entgegnete Orphan mit der schlichten
Aufrichtigkeit, die nur die Jugend kennt. Gilgamesch erhob sich und umarmte den
überraschten Orphan, der die Umarmung erwiderte. Der alte Mann fühlte sich
zerbrechlich an. »Lass uns auf euer beider Wohl trinken.«
    Während sie sich die Flasche teilten, grinste Orphan albern vor sich
hin.
    Â»Lies mir aus der Zeitung vor«, forderte Gilgamesch ihn
auf. Sie saßen zusammen am Ufer und blickten auf die Themse.
    Gehorsam griff Orphan nach der fettfleckigen Zeitung. Die
Druckerschwärze verlief bereits. Er überflog die Seiten, um nach einem Artikel
zu suchen, der Gilgamesch interessieren könnte. »Hier«, sagte er schließlich,
räusperte sich und las die Überschrift vor: » TERRORISTENBANDE
SCHLÄGT WIEDER ZU !«
    Â»Weiter«, verlangte Gilgamesch, indem er ihn mit Brotkrümeln bewarf.
    Â»Gestern Abend«, fuhr Orphan fort, »hat im Herzen der Hauptstadt
erneut die berüchtigte Terroristenhorde zugeschlagen, die unter dem Namen Die Leute aus Porlock bekannt geworden ist. Diesmal war ihr
Opfer kein Geringerer als der berühmte Dramatiker Oscar Wilde, der, wie er zu
Protokoll gab, gerade mit der Abfassung eines Werkes von eminenter Bedeutung
beschäftigt war, als es plötzlich energisch
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