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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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wusste, dass sie die Augen starr auf jenen Punkt gerichtet hielt, wo die Flammen hochschlugen und die Betonblöcke krachend einstürzten.
    »Ja«, murmelte ich, »es hätte ihnen gefallen.«
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36. Kapitel

    D ie Nacht war klar; die funkelnden Sterne glühten wie weißglühende Kohlen vom Feuerbrett eines Gottes, die der Wind weit über den schwarzen Herd des tibetischen Himmels verstreut hatte. Leuchtende Myriaden schwärmten tief über Schluchten und Gipfel, auf den sinkenden Flügeln der Nacht. In ihrem Licht standen, in Ferne und Dunkelheit verklärt, unendlich viele weiße Gipfel, Berge über Berge. Das Dach der Welt, so hieß es. Wir alle trugen dieses Bild in uns; jeder sah es anders, auf seine Weise.
    Auf einem Höhenrücken hielten die Reiter plötzlich an, spähten den sternenhellen Hang hinab. In ihren dunklen, scharfen Gesichtern glühten die wachsamen Augen. Auch die beweglichen Ohren der Reittiere hatten die fremden Tonschwingungen erfasst. Sie schnaubten leise, schlugen mit dem Schweif an die Flanken. Es dauerte nur eine kurze Weile, dann vernahm auch ich das pochende Hämmern von Hufen, das durch die Nacht hallte. Eng gegen Kunsang gepresst, die ihre Arme um mich geschlungen hatte, beobachtete ich, wie die Pferde den Hang hinaufjagten. Im erstickten Trab ritt die kleine Gruppe die Steigung empor, zügelte in kurzem Abstand ihre Pferde zum Schritt. Der tief aus dem Tal kriechende weiße Rauch zeigte mit Sicherheit an, wo sie herkamen, so dass die Nomaden, die auf die Nachzügler warteten, nur vereinzelte Worte und halblautes Gelächter hören ließen. Dann ritten beide Gruppen gemeinsam weiter, schnell und leise wie zuvor. Im schnellen Passgang trieb ein Reiter seinen Rappen dicht an mein Maultier heran. Ich fühlte, wie Kunsang leicht zusammenzuckte. Wir ritten jetzt Steigbügel an Steigbügel, und ich fühlte meine Knie zittern.
    Atans Augen unter dem tief in die Stirn gezogenen Filzhut waren schwarz und glänzend wie die Steine unten am Fluss.
    »Nun?«, fragte er. »Wie gefiel dir das?«
    »Großartig.« Ich lächelte verzerrt. »Du kannst anscheinend keiner Sabotage widerstehen.«
    »Sie dachten, sie hätten uns zermürbt. Der Zeitpunkt konnte nicht besser sein.«
    »Sie werden uns aufspüren.«
    »Nein. Sie haben keine Brücken mehr. Vergiss die Chinesen jetzt einfach.«
    »Aber ganz bestimmt«, gab ich sarkastisch zurück.
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    »Wie geht es dir?«, erwiderte er sanft, den Blick auf Kunsang gerichtet.
    Sie antwortete selbst, schwerfällig und mit dumpfer Stimme:
    »Nicht… so übel.«
    »Schmerzen?«
    »Kaum.«
    Weil sie voller Morphium steckt, dachte ich, behielt jedoch diesen Gedanken für mich.
    Wir ritten weiter, und der Himmel über uns war blau wie dunkler Saphir. In zahllosen Windungen führte die Piste hinauf, ein Weg, den Yaks oder Wildesel im Laufe der Zeiten ausgetreten hatten. Hier war die Bergflanke dem eisigen Nachtwind ausgeliefert, der das Krüppelholz schüttelte und der in den Schluchten heulte. Mir fiel auf, wie geschickt sich die Reittiere mit seiner Hilfe vorwärtsbewegten. Sie lehnten sich sozusagen gegen ihn, um ihr Gleichgewicht zu stärken. Wirklich erstaunlich, wie leicht und sicher sie liefen! Allmählich brach im Osten das Gelbgrau der Dämmerung hervor; in einer Stunde würde die Sonne aufgehen. Wir stiegen weiter, doch es war mehr ein Klettern als ein Laufen. Kunsang sagte kein Wort, doch ich spürte durch die Kleider die Hitze ihres Körpers.
    Ich wusste, dass die Schmerzen wiederkamen. Sie presste zwar, so gut sie konnte, ihre Schenkel gegen die schweißnassen Flanken des Maultieres, doch ich fühlte, wie sie bei jeder Erschütterung unaufhaltsam nach hinten rutschte. A tan ritt dicht neben ihr, um sie zu halten, falls ihre Kräfte versagten. Alle Verletzten waren von der Anstrengung gezeichnet; einige schienen kaum mehr fähig, sich lange im Sattel zu halten. Atan nickte mir zu.
    »Wir sind bald da.«
    Der Himmel färbte sich rot, und die ersten Vögel zwitscherten, als ich im Dämmerlicht Felsblöcke sah, auf denen die geweihten Worte Om mani padme hum mit weißem Kalk gemalt waren. Meine Kopfhaut kribbelte. Wo solche »Mani-Steine« den Weg säumten, begann ein heiliger Bezirk. Hier öffneten Himmel und Erde ihre Pforten, die Felder ihrer Kraft berührten sich. Ich spürte diese Kraft wie Wellen über den Boden gleiten, mich machtvoll und sanft erfassen. Auf der Rückseite der Steine schlängelte sich der Pfad weiter empor und führte uns in eine Schlucht.
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