Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
war alles still: Ausgangssperre. Nur aus der Ferne vernahmen wir das Rollen vereinzelter Armeefahrzeuge.
    Wachstreifen waren auch unterwegs. Wir hörten ihre Schritte und Stimmen; dann knipsten wir sofort die Lampe aus, warteten gespannt und ängstlich. Doch nichts geschah. Im Licht der Taschenlampe verknoteten wir Kunsangs Bandagen neu; die Wunden waren nicht entzündet und bluteten nur noch wenig. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, wie ich dachte. Gerade hatte ich Kunsang ihre nächste Injektion gegeben, als wir draußen ein klopfendes Geräusch hörten.
    Chime und ich tauschten einen Blick, lauschten mit fliegendem Atem. Ja, es konnte das verabredete Signal sein. Die alte Frau trat leise an die Tür. Da… wieder das Signal! Chime nickte erleichtert, zog den Riegel zurück. Die Tür ging einen Spalt auf; Chime hob den kleinen Steppvorhang und das Gesicht dessen, der geklopft hatte, schob sich herein.
    347
    »Chokra!«, rief ich leise.
    Lautlos und geschmeidig trat er ein; er trug einen chinesischen Garnisonshut mit Ohrenklappen, und doch war er ganz und gar Khampa, mit seinem verwegenen Gesicht, seinen kühn blitzenden Augen.
    »Wir müssen schnell machen. Die anderen warten. Alles bereit?«
    »Wo ist Atan?«, fragte ich.
    »Er hat noch zu tun. Er wird uns später treffen«, erwiderte er knapp, bevor er seine Augen auf Kunsang richtete, die sich mit meiner Hilfe mühevoll aufrichtete.
    »Kannst du reiten?«
    Sie biss die Zähne zusammen, setzte behutsam einen Fuß nach dem anderen auf den Boden. Ich zog ihr inzwischen die Stiefel an.
    »Doch… Ich glaube schon«, beantwortete sie Chokras besorgte Frage.
    Mein Rucksack war schon gepackt; wir verabschiedeten uns von Chime.
    »Wenn ich zurückkomme«, sagte ich zu ihr, »werde ich dich zuallererst besuchen, das schwöre ich dir! Und Kunsang wird die alten Lieder singen… nur für dich.«
    Ein Lächeln spielte um ihre zerfurchten Mundwinkel.
    »Da habe ich etwas, worauf ich mich freuen kann. Ja, und… wir geben niemals auf, nicht wahr? Vielleicht schenken mir die Götter noch ein paar Jahre Leben?«
    Unsere Umarmung war lang und innig; keine von uns wusste, ob wir uns jemals wiedersehen würden. Dann machten wir uns auf den Weg und Chime schloss geräuschlos die Tür hinter uns. Draußen war alles ruhig und dunkel. Der Sandsturm hatte bei Nachteinbruch an Gewalt verloren. Ein schwerer Geruch nach Staub und verbrannten Reifen machte die Luft stickig. Die Nacht verwandelte die Gassen in lange, finstere Tunnel oder gespenstische Höhlen, aber Chokra schien den Weg genau zu kennen. Er hatte mir meinen Rucksack abgenommen, damit ich mehr Bewegungsfreiheit hatte. Wir stützten Kunsang, die Mühe hatte, mit uns Schritt zu halten, aber keinen Laut hören ließ. Sie hielt den Kopf gebeugt, atmete flach, sparte ihre Kräfte. Dann und wann fuhr ein Wagen durch eine Nebenstraße, und ein paarmal ertönte der schnelle, rhythmische Schritt einer Patrouille.
    Wir näherten uns dem Fluss. Vor uns erhoben sich die Umrisse der alten Holzbrücke, und etwas weiter, flussabwärts, die neue Betonbrücke mit ihren kühn geschwungenen Pfeilern. Doch das 348
    Bohren und Hämmern war verstummt. Eine große Teermaschine mitten auf der Brücke zeigte, dass die Arbeit wohl ziemlich eilig abgebrochen worden war. Auch das Lager der Straßenbauer mit seinen Bohrtürmen, Hebekränen und Erdbaggern lag verlassen da.
    Zu beiden Seiten der Straße reihten sich halbrunde Hütten aus Heeresbeständen, die den Straßenarbeitern als Unterkunft dienten.
    Über den Wellblechdächern leuchteten die Sterne, aber kein Licht brannte, kein Mensch war zu sehen. Ich nahm an, dass die Soldaten alle Strafgefangenen rechtzeitig fortgebracht hatten, damit sie nicht Zeugen der Demonstrationen wurden oder den Lärm der Schusswaffen hörten.
    Wir kletterten hinter Chokra die Böschung hinab, hörten das Wasser murmeln und glucksen. Chokra half Kunsang über das lockere Geröll, als wir einen Pfiff hörten. Chokra legte kurz den Finger an die Lippen, antwortete mit dem gleichen Signal. Wir gingen noch eine kurze Strecke, als sich ein behender Schatten aus der Dunkelheit löste. Einen Atemzug später erblickte ich, mir zugewandt, ein herzförmiges Kindergesicht, einen Strahlenkranz fliegender Zöpfchen.
    »Longsela!«, rief ich, leise und verblüfft. Der Ernst der Stunde schien sie unberührt zu lassen. Sie lächelte, als wäre alles ein kindliches Spiel. Ihre hübschen weißen Zähne blitzten. Sie trug einen Beutel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher