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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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Chokra schien plötzlich sehr in Eile. Für Kunsang und mich stand ein Maultier bereit; Maultiere waren ruhiger als Pferde und hatten einen gleichmäßigen Gang. Chokra ließ mich aufsitzen und half dann Kunsang in den Sattel. Ihre Zähne gruben sich in die bebende Unterlippe, doch sie setzte sich geschickt in den Sattel und umklammerte meine Taille. Alle Pferde verhielten sich merkwürdig still, aber ich wusste von Atan, dass die Nomaden ihren Reittieren eine Schlinge um das Maul zogen. Auch waren die Hufe sämtlicher Tiere mit Lumpen umwickelt, was ihre Schritte geräuschlos machte. Longsela ritt bereits ein eigenes Pferd: eine junge braune Stute, mit einem leuchtenden Schimmer in den großen 351
    Augen. Die üppige Mähne fiel tief herab, der Schweif berührte fast den Boden. Das Tier musste gut dressiert sein, dass Longsela es jetzt schon reiten konnte, aber die Kinder der Nomaden lernen früh, sich im Sattel zu halten. Sie sah Kunsang besorgt an.
    »Halt dich gut fest!«
    Kunsangs blasse Lippen deuteten ein Lächeln an.
    »Danke, Longsela… Ja… ich kann reiten… Atan hat es mir beigebracht…«
    Sie umklammerte meine Taille und wir setzten uns zusammen mit den anderen Reitern in Bewegung. Eine Zeitlang ritten wir unterhalb der Landstraße, immer am Flussbett entlang. In einiger Entfernung von der Brücke hielt die Gruppe an. Einer der Männer stieg ab und nahm den Reittieren die Tücher von den Hufen, damit ihre Füße sicherer auftreten konnten. Dann ritten wir weiter. Die Nacht war eisig und klar; nur vereinzelte Nebelfelder schwebten über das Wasser. Eine seltsame Leere war in mir, alles hallte darin wider wie in einer hohlen Muschel. Ich wusste nicht mehr, ob ich schwitzte oder fror, ob ich wachte oder träumte. Wir ritten über schmale Pfade immer bergan; die Nomaden schienen das Gelände genau zu kennen, und wir kamen schnell vorwärts. Mir war klar, dass die Reiter sich die Dunkelheit zunutze machten. Bei Tageslicht zu reiten war gefährlich; das Militär würde die Pferde mit Feldstechern leicht ausmachen können.
    Eine merkwürdig knisternde Spannung lag in der Luft, die Khampas sprachen nur wenig. Einmal schnappte ich einen Satz auf, dessen genauen Wortlaut ich nicht verstand, der aber in mein Denken eindrang: »Jetzt sind wir schon weit genug.« Ich weiß nicht, warum mir der Satz auffiel. Ob es die Spannung oder die Müdigkeit war, oder auch die Worte, die ich gerade jetzt erlauscht hatte und die sich in meinem Kopf regten, das konnte ich nicht sagen; doch mit einem Mal tat mein Herz einen Sprung und im selben Augenblick geschah es: Irgendwo im Talgrund flackerte ein Schein auf, geisterhaft wie ein Irrlicht. Eine kleine schwarze Rauchfahne wehte aus dem Nebel, und in der Windrichtung konnte ich ein weiteres kleines Feuer erkennen. Plötzlich schoss ein großer dunkler Fleck über den Nebel empor. Ein dumpfes Getöse ließ den Boden erzittern.
    Dann kam ein Lärm, wie von berstenden Steinen, und fast gleichzeitig ein gewaltiger Knall, genauso, als wenn eine große Kanone ein Geschoss schleudert. Nun schien das tosende Echo kein Ende zu nehmen. Aus der Finsternis schoss ein dunkelroter 352
    Flammenbusch, lief wie eine Flackerlinie die Brücke entlang. Qualm stieg hoch, breitete sich weiter und weiter aus, bevor er sich langsam auflöste. Die Pferde wieherten erschrocken, aber stiegen weiter bergan, und niemand sagte ein Wort. Doch ich wusste Bescheid; Atan hatte seine Drohung wahr gemacht. Woher er die Sprengkörper hatte, wo er sie die ganze Zeit über gelagert hatte, würde ich nie erfahren, und es war auch nicht meine Sache, es zu wissen. Während wir in langer Reihe den Berg erklommen, sahen wir das Flusstal; der Widerschein der Brände erhellte es: Ein Brückenpfeiler war eingestürzt, der zweite zerknickt wie ein Streichholz, und auch die alte Holzbrücke, nicht weit davon entfernt, brannte lichterloh. Mit dem Bau der Straße war jetzt für Wochen, wenn nicht für Monate, Schluss.
    Irgendetwas von meinen Gedanken musste zu Chokra vorgedrungen sein, denn plötzlich trieb er sein Pferd dicht an mein Maultier. Im Zwielicht der Sterne begegneten sich unsere Blicke.
    Seine inneren Regungen konnte ich nicht verfolgen. Aber es gibt Momente, wo eine Geste, ein Gesichtsausdruck erlaubt, alles zu erspüren, alles zu verstehen.
    »Zwei Brücken mit einem Schlag«, zischte er. »Ein Freudenfeuer für die Taring-Brüder!«
    Ich spürte Kunsangs warmen Atem im Rücken. Sie sagte kein Wort, doch ich
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