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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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klarem Instinkt, wonach sie strebten und was gut für sie war. Daran dachte ich, als die Tore des Münsters aufgingen und die geladenen Gäste das Gotteshaus betraten. Kein Drängen und Stoßen, nein, ein ruhiges, beharrliches Strömen. Wir fanden bald unsere Plätze, und ich sagte zu Amla:
    »Weißt du, ich habe mir überlegt, dass es schwierig sein könnte.
    Sie werden mich nicht zu Seiner Heiligkeit vorlassen.«
    »Das macht nichts«, erwiderte sie gelassen. »Er wird dich schon sehen.«
    »Aber die Sicherheitskräfte, stell dir das mal vor!«
    »Er wird dich erkennen«, sagte Amla mit Nachdruck.
    »Wie kommst du darauf?«
    Sie schüttelte nachsichtig den Kopf.
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    »Es ist wirklich nicht nötig, dass du dir Sorgen machst.«
    »Wie meinst du das, Amla? Ich verstehe dich nicht.«
    Sie blieb mir die Antwort schuldig. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Freiwillig gab sie nichts preis, das war es an ihr, was mich so oft nervös machte! In Amlas Vorstellungskraft lag nicht der geringste Zweifel. Ihr Glaube war unerschütterlich. Alles was geschehen musste, würde geschehen, und mein Anteil daran würde unvermeidlich und entscheidend sein. Jetzt aber spürte sie meine Verdrossenheit, denn für sie war ich nach wie vor ohne Geheimnis. Ihre warme, kräftige Hand suchte die meine, drückte sie.
    Die Berührung gab mir eine Ermutigung, ein gutes, starkes Gefühl.
    In mir kehrte Ruhe ein, eine wunderbare Ruhe. Nicht meine Geschichte war es, die hier erzählt werden sollte, sondern die Geschichte vieler Menschen und Dinge – eine Fabel voller Freude und Trauer, voller Liebe auch, Ehre, Mut und Schmerz. Ja, es war richtig, dass sie erzählt wurde, an diesem ganz besonderen Morgen.
    Und ich träumte, dass es eine Minute geben könnte oder eine Sekunde oder auch nur den Bruchteil einer Sekunde, während der Lebende und Tote ihre Hände verschränkten und sich in ihrem leuchtenden Kreis alle Kraft und Bedeutung sammelten. Darauf hoffte mein inneres Auge. Und gleichzeitig bewirkte der Zwiespalt in mir, dass ich allem misstraute, was unvorhersehbar und magisch war. Soweit ich mich entsinnen konnte, war mein Sehnen stets durch übermäßige Gedanken getrübt: Ich grübelte und zweifelte und analysierte. Und wünschte mir trotzdem, von ganzem Herzen und mit aller Kraft, an diesem Tag der Freude ein Wunder zu erleben.
    8

1. Kapitel

    I ch träumte nicht mehr wie früher. Nicht mehr von Chodonla jedenfalls. Von anderen Dingen. Und von Tibet, das zu mir herüberblickte über ganze Erdteile und Ozeane, eine Welt voller Licht und Schrecken, karger Berge, ziehender Wolken und heulender Winde. Was hatte ich damals von Lhasa gesehen? Hässlichkeit, Wellblech, Beton. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Wie fremd ich mich gefühlt hatte, obgleich ich in Lhasa geboren war! In der Dunkelheit meiner Erinnerung lag ein anderes Lhasa verborgen.
    Jahrelang hatte ich ein Bild gehütet, das es nicht mehr gab. Wir alle erliegen ja Trugbildern, lassen uns vom Irrationalen leiten. Zum Glück war ich nicht – wie manche Exiltibeter – in zwei Welten aufgewachsen. Das mochte meine Stärke sein; ich konnte die Zähne zusammenbeißen, den Dingen, die ich einst geliebt hatte, den Rücken kehren.
    Mit Kunsang sprach ich selten darüber. Sie war auf besondere Art verschlossen; und obwohl sie erst fünfzehn war, wurden ihre Worte und Handlungen gelegentlich von Wahrnehmungen geprägt, die ich nicht deuten konnte. Oft kam sie mir sogar älter vor als ich.
    Wir Tibeter glauben an die Wiedergeburt, mir schien, dass Kunsang in den paar Jahren ihres irdischen Daseins schon mehrere Leben gelebt hatte. Zwischen uns lag eine Distanz, die mich oft überwältigte und erschreckte. Atan konnte mit ihr besser umgehen.
    Er wusste seit frühester Kindheit, wie ein Ereignis das nächste nach sich zieht oder wie sich gewisse Dinge unabhängig voneinander ergänzen.
    Um alles zu verstehen, muss ich zum Kern der Geschichte zurück. Vergessen wäre vielleicht besser, aber vergessen konnte ich nicht. Waren es die Träume, die mich in jenes Land zurückgeführt hatten, das es nicht mehr gab? Wie es oft bei Exiltibetern vorkommt, hatte ich von meinem Geburtsort unklare und romantische Vorstellungen; die Realität war mir brutal und ernüchternd ins Gesicht gesprungen.
    Atan, so hieß der Mann, den das Schicksal mir als Gefährten zugeführt hatte. Auch er hatte viele Leben gelebt. Nichts und niemand konnte ihn unvorbereitet treffen, abgesehen von ihm selbst.
    Das
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