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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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geworden.
    Inzwischen lief mein Leben routiniert ab. Ich arbeitete mit Karma in der Krankenstation, und Kunsang ging zur Schule. Von rascher Auffassungsgabe, zog sie aus den Unterrichtsstunden größeren Nutzen als ihre Mitschüler. Beliebt war sie nicht; sie hielt sich abseits. Dass sie Halbchinesin war, hatte sich bald herumgesprochen.
    Irgendwie hatte sie gelernt, ihr Gesicht ausdruckslos zu halten; mich jedoch täuschte sie nicht. Sie hatte Schweres durchgemacht, den Tod ihrer Mutter nicht überwunden, und vielleicht auch nicht ihre gewaltsame Trennung von Sun Li. Ihre Haltung war kühl, aber der Klang ihrer Stimme entzückte. Ohne es zu wollen, übte sie auf alle, die mit ihr in Berührung kamen, einen seltsamen Zauber aus.
    Gelegentlich bemerkte ich, dass sie gedankenverloren vor sich hin summte. Ihr Gesicht war nicht glücklich dabei; sie schien sich nicht 13
    einmal bewusst zu sein, dass sie sang. Eines Tages, als sie am Tisch saß und malte, fiel es mir besonders auf. Dass sie gerne und gut malte, wusste ich von Atan. Ihre Farben waren von großer Leuchtkraft, obwohl die Darstellung kindlich blieb. Ihre Bilder zu deuten war nicht einfach, denn in dem, was Kinder malen, liegt das Wesentliche im Nichtdargestellten. Trotz der Vielfalt und Schönheit der Farben zeigte die Strichführung Unsicherheit: Die Figuren strebten von der Bildmitte fort, als ob sie sich auflösen und verschwinden wollten. Es ist für jeden Menschen schwer, mit der Unausweichlichkeit seiner Einsamkeit fertig zu werden, aber ein Kind leidet mehr darunter. Es kann nichts anderes erreichen, als dass es seine Einsamkeit erkennt, anerkennt und sich daraus entwickelt.
    Kunsangs Mutter war tot, die alte Ani Wangmo und Sun Li, der sie legal adoptiert hatte, waren aus ihrem Leben verschwunden. Und Atan? Gab es ihn wirklich? Er kam und er ging. Mit dem feinen Instinkt des Kindes spürte Kunsang meine eigene Unsicherheit.
    »Wo ist Onkel Atan? Wann kommt er endlich?«, fragte sie mich eines Tages.
    Ich wandte den Blick ab und antwortete heiter:
    »Bald. Er kommt bald. Er hat doch versprochen, dir das Reiten beizubringen.«
    Sie wurde nachdenklich.
    »Wird er reiten können? Mit seinem schlimmen Bein?«
    »Aber sicher«, erwiderte ich. »Du warst doch dabei, als ich die Kugel entfernte.«
    Sie nickte, mit starrem Gesicht.
    »Er hat schrecklich geblutet.«
    Mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen.
    »Das wird ihm wenig ausmachen. Er wurde schon oft verletzt, weißt du.«
    Sie blickte sinnend vor sich hin.
    »Ich werde ihm sagen, dass ich auf ihn warte«, meinte sie.
    »Sie hat viel Phantasie«, sagte ich später zu Karma.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Karma, »da ist etwas anderes.«
    »Wie meinst du das?«
    »Kinder stellen sich Menschen vor, als stünden sie wirklich vor ihnen.«
    Kunsang malte stundenlang, selbstvergessen und wie aus einem inneren Zwang heraus. Dabei sang sie die ganze Zeit vor sich hin.
    Wie lässt sich eine Stimme beschreiben? Damals, in Karmas kleinem 14
    Steinhaus, hörte ich sie zum erstenmal. Kunsang sang völlig unbefangen, wie ein Vogel mit den Flügeln schlägt. Ihre Stimme war kindlich, und sie sang auch ohne Worte; es war eher eine Modulation, und ich erkannte in ihr verschiedene Ansätze von tibetischen Volksliedern, die ineinander übergingen. Sie trug diese Melodien, so schien mir, unbewusst mit sich herum; womöglich waren sie für sie unbedeutend. Doch während sie malte, meldeten sie sich in ihrem Gedächtnis zu Wort. Es waren verschiedene Erinnerungen und Gefühle, denen sie sich unbefangen überließ, wie Kinder das zu tun pflegen. Mir fiel auf, wie mühelos, rein und klar ihre Stimme auch die schwierigsten Melodien wiedergab. Wir leben in einer rationalen Welt, und sobald ein Wesen unverfälscht seine Gefühle preisgibt, geraten wir in Verlegenheit.
    Ging sie ihren Tätigkeiten nach, vermied ich es, über ihre Schulter zu blicken; ich wäre mir zudringlich vorgekommen. Umso erstaunter war ich, als Kunsang mir ein paar Tage später mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht das fertige Bild hinhielt.
    »Da! Ich habe Onkel Atan gemalt.«
    Eine plötzliche Unruhe überkam mich; mein Herz schlug schneller. Aufgewühlt, wie ich war, vermochte ich das Bild nur mit einem Seitenblick zu streifen. Kunsang hatte Atan als riesenhafte, nahezu animalische Erscheinung gemalt, in einem groben Fellumhang. Die Hosen steckten in verschnürten Gamaschen. Das bronzefarbene Gesicht war von rabenschwarzen Flechten umrahmt, aus den
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