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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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selbst richtig kannte.
    Gleich nach unserer Ankunft im Tashi-Pakhiel-Camp wurde Kunsang in die dritte Klasse aufgenommen. Ich merkte sehr bald, wie wenig sie hierher gehörte. Ihr Verstand war bereits viel weiter.
    Wer ihr Vater war? Chodonla hatte ihr Geheimnis mit in den Tod genommen. Von Sun-Li, dem Liebhaber ihrer Mutter, hatte Kunsang lediglich erfahren, dass ihr Vater Chinese war und sie aus diesem Grund nach China gehörte. Sun-Li war stets freundlich und gut zu ihr gewesen, und Atans Rolle in dieser Geschichte mochte sie nicht ganz überzeugt haben. Erst allmählich wurde ihr klar, dass tibetische Familien die schlimmsten Gefahren auf sich genommen hatten, um 11
    Chinas Diktatur zu entfliehen. Für Kunsang, die fließend chinesisch sprach, war das zuerst unbegreiflich gewesen. Sie selbst war ja – den Umständen entsprechend – behütet aufgewachsen.
    Ich hatte damals nicht geglaubt, dass ich es schaffen würde, mit Kunsang das Sunpa-Khanpo-Kloster zu erreichen. Atan lag schwer verletzt in den Festungsruinen des siebten Panchen-Lamas. Ich hatte nur an seine Rettung gedacht, jedes gefährliche Risiko ausgehalten und schließlich mein Ziel erreicht. Der Abt hatte sofort eine Rettungsmannschaft auf den Weg geschickt. Doch ich konnte nicht länger warten: Man hatte für Kunsang einen Steckbrief herausgegeben, und die Schneefälle drohten jeden Tag einzusetzen.
    Tukten Namgang, der Abt, leitete alles schnellstens in die Wege; aus seiner Umsicht sprach große Vertrautheit mit Situationen dieser Art.
    Wir schlossen uns einem Händler und seinen drei Söhnen an, die mit Maultieren und einem Dutzend schwer bepackter Yaks über die Grenze gingen. Kunsang und ich galten als Familienangehörige; in unseren Pilgerpässen standen falsche Namen. Kunsang hatte ihr Haar schneiden müssen; sie trug es für gewöhnlich mit langen Fransen.
    Ihre unbedeckte Stirn war blasser als die übrige Gesichtshaut. Ich rieb ihr Gesicht mit Nussöl ein, um die Haut gleichmäßig zu tönen.
    Tagelang hatten wir die Grunzlaute der mit Warenballen bepackten Yaks und das Bimmeln ihrer Messingglöckchen in den Ohren gehabt. Noch war das Hochland an der Grenze Nepals schneefrei.
    Der erste Schneesturm setzte erst kurz vor dem chinesischen Grenzposten ein, und das war wiederum unser Glück. Andere Karawanen, die alle das gute Wetter genutzt hatten, stauten sich jetzt vor dem Zoll. Von orkanartigen Winden umbrandet, stapften die Grenzwächter im frischen Pulverschnee, auf der Suche nach Schmuggelware, und fanden natürlich welche. Fast jeder Händler musste Buße zahlen, bevor die Karawane weiterziehen konnte.
    Kunsang und mir schenkten die Chinesen nur geringe Aufmerksamkeit. So kamen wir über die Grenze. Wir begleiteten die Karawane bis nach Namche. Von dort aus gab es eine Flugverbindung nach Pokhara. Kunsang wurde ein Flüchtlingspass ausgestellt.
    Bis ich Atan wiedersah, sollten acht Monate vergehen.
    12

2. Kapitel

    W ie war es gewesen, als wir uns wiedersahen, Atan und ich?
    Kritisch und aus der Distanz betrachtet, war jene Zeit im Tashi-Pakhiel-Camp, in der ich mich verzweifelt in meine tägliche Arbeit stürzte, für mich keine verlorene Zeit. Meine Gedanken waren andauernd beschäftigt, für unerfüllte Träume blieb nicht der kleinste Raum. War Atan am Leben, würde er es wohl versuchen, mich wiederzusehen. Aber nichts war sicher. Mit Karma sprach ich wenig darüber. Ich erinnerte mich an ihre Worte damals: »Du wirst seinetwegen leiden, Tara«, und hielt lieber den Mund. Ärzte haben keine Zeit für Neurosen. Liebeskummer? Seelenleid? Im Bett 4 liegt eine Frau, der du das Bein amputieren musst! Doch nachts, als ich mir meines Körpers und der Einsamkeit bewusst wurde, fühlte ich mich heimgesucht von seiner Gegenwart, hörte ich wieder seine Stimme und die Worte, die er damals beim Abschied gesprochen hatte: »Willst du auf mich warten, Tara? Ich komme zu dir. Du musst nur Geduld haben, es kann ziemlich lange dauern.«
    Und ich? Was hatte ich geantwortet? Im Grunde genommen war ich keineswegs romantisch veranlagt. Aber damals war mir, als ob eine höhere Macht mir einen Verstand gegeben hatte, der mir ein klares und tiefes Gewissen verlieh. Und so hörte ich mich sagen:
    »Ich warte auf dich. Wenn es sein muss, mein Leben lang.«
    Einfach gesagt, wenn ich’s bedenke. Die Worte waren mir leicht über die Lippen gekommen. Heute schien mir, als sagten sie im Grunde nicht viel aus; ich war durch Erfahrung abgebrüht
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