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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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jedenfalls war mein Eindruck von ihm. Ich glaube nicht, dass ich in meinem ganzen Leben jemals einem Menschen begegnet war, 9
    der sich nicht vor dem Tod fürchtete. Atan war ein Mann, der alles über den Tod zu wissen schien, sich aber nicht vor ihm fürchtete.
    Das war das Außergewöhnliche an ihm. In meiner Welt hatte es solche Menschen zuvor nie gegeben. Meine Welt war voll von Menschen gewesen, die nicht begriffen, dass sie sterben konnten. Als Ärztin war mir das stets bewusst; dessen ungeachtet war mein Leben erfreulich unsentimental gewesen, bis sich mir eine neue Welt auftat, so fremd und beunruhigend wie die Welt der Dinosaurier.
    Begonnen hatte alles 1968, als ich mit meiner Familie in einer stockfinsteren Sturmnacht aus Lhasa floh; in Tibet übten die chinesischen Rotgardisten die abscheulichsten Greueltaten aus. Es war eine Periode kollektiven Wahnsinns; viele Tibeter wählten damals das Exil. Während der überstürzten Flucht ging meine vierjährige Zwillingsschwester Chodonla verloren. Das Kind galt jahrelang als vermisst, bis sich herausstellte, dass Chodonla in einem Waisenhaus in China erzogen und als Lehrerin ausgebildet worden war. Ihr Mann war tot; sie hatte eine kleine Tochter, Kunsang. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie wieder in Lhasa, ging jedoch jeder Verbindung mit uns aus dem Weg. Wir konnten uns ihr Verhalten nicht erklären. Für meine Eltern war die Frage bedeutungslos.
    Chodonla war am Leben, nichts anderes zählte!
    Ich hatte nicht ihre Gutgläubigkeit. Das Gefühl, dass sie in Gefahr war, ließ mich nicht los und war ebenso erschreckend wie einst meine Ungewissheit. Chodonla lebte in einer anderen Welt, und doch war sie ein Stück von mir. Die Verbundenheit zwischen Zwillingen berührt die Dinge, die tief in uns wurzeln, im Dunkel der Erinnerung des gemeinsamen Mutterleibes. Ich hatte das zunehmende Bedürfnis, Chodonla vor etwas unabwendbar Brutalem retten zu müssen. Ich sträubte mich dagegen, aber meine Unruhe wuchs; die ganze Situation war unerklärbar und erschien mir gleichwohl als ein objektives Phänomen, als etwas Reales. Und so kündigte ich kurz entschlossen meine Stelle im Kantonsspital Aarau, fuhr nach Nepal, ging bis nahe an die tibetische Grenze, nach Pokhara, wo meine Kusine Karma in einem Lager für tibetische Flüchtlinge die Krankenstation leitete. Heute verstehe ich, wie seltsam meine Reaktion meiner Familie vorgekommen sein musste.
    Ich hatte mich auf das Gebiet der Mikrochirurgie spezialisiert, nähte Blutgefäße unter dem Mikroskop, die kaum einen halben Millimeter maßen, und war auf meinem Gebiet eine anerkannte Spezialistin.
    Und plötzlich – wie aus heiterem Himmel – war ich fasziniert von 10
    der lamaistischen Heilkunst, die auf Massage, Aderlass und Hitzetherapie gründet. Irgendwann eröffnete mir der Gedanke, die westliche Medizin mit der zweitausend Jahre alten asiatischen Heilkunst zu verbinden, bestrickende Perspektiven. Karma war von einem berühmten Menrampa, einem tibetischen Professor, unterrichtet worden. Ich bat sie, mich als Schülerin aufzunehmen.
    Dabei kehrte ich der westlichen Medizin keineswegs den Rücken; meine Frage lautete lediglich: »Was hat die tibetische Medizin mehr zu bieten?« Es war durchaus keine rhetorische Frage: Karma war bereit, ihre Erfahrungen mit mir zu teilen. Ich lernte viel von ihr, es war von großer Bedeutung für mich und half mir auf meinem Weg weiter.
    Von Karma erfuhr ich auch, dass meine Gefühle bezüglich Chodonla mich nicht getäuscht hatten. Und später war es Atan, der meine bösen Ahnungen schonungslos bestätigte. Je länger ich in jener Zeit darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich irgend etwas in dieser Angelegenheit tun musste. So beschloss ich, mit Atan nach Tibet zurückzukehren, um Chodonla zu sehen. Es wurde eine gefahrvolle Reise über die Pässe, und zum Schluss kam ich zu spät: Chodonla war tot, und ich gab mir die Schuld, dass ich zu lange gewartet hatte.
    Doch da war ihre kleine Tochter. Mit Atans Hilfe hatte ich Kunsang aus Tibet fortgebracht. Es geschah gewaltsam; was ich dem Kind angetan hatte, würde ich wohl nie gänzlich erfahren. Kunsang äußerte sich nicht dazu. Ich gab mir Mühe, ihr näher zu kommen, und manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie mir vertraute. Ein andermal hätte ich ihr – sehr untibetisch – Tritte versetzen können.
    Würde irgend jemand in der Lage sein, den ganzen Umriss ihres Wesens zu erkennen? Ich wusste ja nicht einmal, ob sie sich
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