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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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großen Augen blickten ebenfalls schwarze Pupillen. Von der Darstellung ging etwas Wildes, Gebieterisches aus. Wenn man den Bildern ein eigenes Wesen zuspricht, ist das nicht anders als mit Worten: Sie werden lebendig, entfalten ihre Kraft. Ich staunte, dass Kunsang, so jung sie war, die Weite der Welt in ihrem Bild schon miteinbezogen hatte. Das kleine Mädchen hatte in Lhasa ein nüchternes, phantasieloses Leben gekannt. Die Chinesen dachten praktisch; die Regierung lockte die Siedler mit Geld und Vorteilen nach Tibet. Viele Neuankömmlinge sahen sich hier plötzlich in einen Lebensstandard versetzt, der unvergleichlich viel höher lag als der, den sie im Mutterland gekannt hatten. Alle wollten schnell Geld verdienen, für Gefühle hatten sie wenig übrig, und nur manche waren ehrlich davon überzeugt, auf ihre Art an der Vervollkommnung der Welt beteiligt zu sein. Einheimische und Chinesen begegneten sich gleichgültig, beinahe freundlich. Die älteren Tibeter lebten in großen Sehnsüchten; eine ungeheure Zäsur 15
    hatte ihr Leben gespalten. Die junge Generation war geschmeidiger, widersprüchlicher in ihrer ganzen Art. Kritischer? Ich vermochte mir kein gültiges Urteil zu bilden.
    »Er wird bald da sein«, sagte Kunsang im Tonfall einer großen Befriedigung.
    Im Tashi-Pakhiel-Camp ging ich im Kreis und kam trotzdem vorwärts. Alles, was hier geschah, war provisorisch, anregend, erregend. Hier konnte alles mögliche passieren. Ich hatte die Siedlung schon immer als überraschend gepflegt empfunden, eine Oase der Ruhe in einem Land, das Touristen ein willkommenes exotisches Chaos bot. Als ob die Flüchtlinge sich, hier einen Ort der Besinnung einrichteten, eine Art Filmkulisse. Der massive, gelbgetünchte Klosterbau bildete den Mittelpunkt des Dorfes; Stoffbahnen mit Segenssprüchen flatterten vor dem Eingangsportal.
    Auch dies war nicht »stilecht«, denn Klöster wurden ursprünglich an abgelegenen Orten errichtet: Die Mönche (oder die Nonnen) sollten nicht abgelenkt werden. Aber hier war das Kloster ein Wahr- und Erkennungszeichen, ein stetig schlagendes Herz. Regelmäßig stieg der Rhythmus der Trommeln aus dem Inneren der Mauern auf, kreiste über die Siedlung, ein gewaltiges Vibrieren. Die Menschen, die Angst und Schmerz erlebt hatten und nachts schreckerfüllt aufwachten, hörten den Rhythmus wie der Fötus im Mutterleib das Pulsieren des Blutes. Und schliefen beruhigt wieder ein.
    Karmas kleines Reihenhaus, aus groben Steinen erbaut, befand sich unweit der Krankenstation. Hinter einer Hecke lag eine kleine Rasenfläche. Tausendschön und kleine bunte Nelken, die wenig Pflege bedurften, blühten in Töpfen. Im Wohnzimmer befand sich, wie in allen tibetischen Häusern, eine Altarwand mit dem vergilbten Porträt des Dalai Lama, sieben Silberschalen und zwei schöne alte Butterlampen. Täglich füllte Karma frische Blumen in die Vasen.
    Die Möbel bestanden aus einer Sitzbank mit Kissenrollen und dunkelblauen, verstaubten Teppichen. Nachts schlief Kunsang dort, weil im winzigen Schlafzimmer kein Platz mehr war. Karma und ich teilten uns ein enges Sofabett. Zu der Wohnung gehörte eine Kochnische, die ständig in größter Unordnung war, und ein dürftig eingerichteter Waschraum. Der Duschkopf war in die Wand montiert, und der Lehmboden mit einem Abflussrohr versehen.
    Hier lebte ich nun beinahe zwei Jahre, arbeitete in der Krankenstation und nahm Unterricht bei Karma.
    Ihre Unterweisung zog mich in ein ganzes Netz von 16
    Verwandlungen und Geheimnissen; gleichwohl empfand ich selten ein wirkliches Gefühl der Fremdartigkeit. Karmas Wissen offenbarte mir Dinge, die schon in mir waren, vielleicht seit Jahrhunderten; es galt lediglich, sie zu nutzen. Jede Handlung entsprang einer langen Tradition. Mir schien, als ob ich diese schon immer wahrgenommen hatte. Rückblickend betrachtet war es eine merkwürdige Unterweisung, nicht systematisch wie ein übliches Medizinstudium, sondern fließend wie die Zeit; eine Lehre, die mir beibrachte, was zu tun war, damit das Leben weiterging.
    Ende April erhielten wir die Nachricht, dass Jonten Kalon, der alte, ehrwürdige Menrampa, gestorben war. Sein Tod überraschte uns kaum; er war längst über neunzig gewesen, hatte viele Jahre in chinesischer Gefangenschaft verbracht und war grausam gefoltert worden. Bei diesem Ereignis kamen mir die Worte des alten Mannes wieder in den Sinn: »Wenn ein Mensch merkt, dass sein Atem zum Ende zugeht, möchte er denen, die nach ihm
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