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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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Nein, natürlich nicht. Man verfällt einer Leidenschaft ganz oder nicht, und wenn nicht, dann ist es keine Leidenschaft. Wenn doch, muss sie Erfüllung finden.
    In letzter Zeit machte Kunsang einen merkwürdig teilnahmslosen Eindruck. Offenbar bekam ihr das Klima nicht. Allmählich, ich konnte nicht einmal sagen, wie es vor sich ging, entstand eine Art stumme Spannung zwischen uns. Kunsang, die nie ein lebhaftes Kind gewesen war, wurde ausgesprochen still. Sie schien nicht gerade betrübt, doch sie war jetzt noch stärker in sich gekehrt. Ihre Augen glänzten matt, ihre Mundwinkel zogen sich leicht herab. Ihre Art zu reden wurde verschlossen, nahezu einsilbig. Ich dachte, nach dem Monsun wird sich alles wieder einrenken, doch Karma hatte in vielerlei Hinsicht ein feineres Gefühl als ich. »Kunsang muss von hier weg. Es ist nötig, glaube mir! Ich beobachte sie schon lange. Sie lebt in einer Art Betäubung und bringt keine Bereitschaft mehr auf, sich zu entwickeln.«
    »Sie schien doch die Ereignisse gut überstanden zu haben… «
    »Das dachte ich zunächst auch«, sagte Karma. »Aber wir täuschen uns. Das Gewerbe ihrer Mutter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nichts davon wusste.«
    »Sie konnte das doch gar nicht so genau wissen«, versuchte ich abzuschwächen.
    »Hast du mit ihr mal darüber gesprochen?«
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    Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein, natürlich nicht!«
    »Sie ist zwölf, Tara. Kinder sind gute Beobachter und registrieren unser Verhalten genau. Wir sprechen bestimmte Dinge nicht an, weil wir vorgeben, ein Kind schützen zu wollen. Aber im Grunde schützen wir uns selbst.«
    Ich konnte ihr nicht widersprechen; das alles traf irgendwie zu.
    Karma fuhr fort:
    »Kunsang hat einen Flüchtlingspass. Ihre Mutter wurde von den chinesischen Behörden verfolgt, weil sie für die Untergrundkämpfer tätig war. Die einzige Familie, die Kunsang noch hat, lebt in der Schweiz. Man wird ihr politisches Asyl gewähren.«
    Ich wusste, dass Karma die Wahrheit sprach. So jung Kunsang auch war, die Ereignisse konnten nicht spurlos an ihr vorübergegangen sein. Sie brauchte ein anderes Leben. Ich sagte:
    »Ich wollte eigentlich hier warten…«
    Karmas Augen wurden schmal.
    »Auf ihn?«
    Ich empfand ein undeutliches Gefühl der Bitterkeit, der Hoffnungslosigkeit. Und ich konnte es auch nicht vermeiden, dass aus meinen Worten eine gewisse trotzige Zurückhaltung sprach.
    »Ich habe ihm versprochen, auf ihn zu warten, ohne zu wissen, wann er kommt…«
    Ich wollte hinzufügen: »und ob er noch am Leben ist«, aber ich sprach die Worte nicht aus. In mir lebte instinktiv die alte Empfindung, dass Worte in unserem Geist Wirklichkeit annehmen.
    Karma sah mich scharf an. Sie fühlte wohl, was ich empfand.
    »Es ist keine gute Reisezeit«, sagte sie versöhnlich. »Warte, bis der Monsun vorbei ist.«
    Spät am Abend setzte ich mich zu Kunsang, die bereits auf der Sitzbank, die ihr als Bett diente, in ihre Decken gehüllt lag. Wieder einmal kam mir deutlich die Erinnerung an das erste Mal, als ich sie gesehen hatte, in diesem Fertigbau für chinesische Kaderleute, am Ufer des Tsangpo. Damals lag sie auf einem Feldbett und schlief; ich entsann mich ihrer Wangenlinie, des zart geschwungenen, kindlichen Halses, des langen Haars, schimmernd wie Quecksilber. Das Haar hatte ich ihr schneiden müssen, wie ein Junge hatte sie eine Zeitlang ausgesehen, doch jetzt wuchs es nach und erreichte fast ihre Schultern. Sie betrachtete mich aus ihren mandelförmigen Augen, aus denen etwas unleugbar Fremdes sprach.
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    »Kunsang, würde es dir Freude machen, mit mir in die Schweiz zu kommen? Zu den Großeltern?«
    Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
    »Sie kennen mich nicht.«
    »Nein, aber sie werden dich von ganzem Herzen lieben. Du hast deine Mutter verloren, aber du bist nicht ganz allein, weißt du. Du hast eine große Familie.«
    Sie sah mich an mit diesen merkwürdigen, tiefen Blick.
    »Immer, wenn ich dich ansehe, muss ich an meine Amla denken… «
    Ich sagte dumpf:
    »Das ist auch richtig so. Wir waren ja Zwillinge und standen uns sehr nahe.«
    In Wirklichkeit stimmte es nicht ganz, aber ich wollte, dass sie es glaubte. Sie schwieg, bewegte ihre dünnen Finger in der anmutigen Art, die einst die von Chodonla war.
    »Nun?«, sagte ich.
    Kunsang war ein Kind, das niemals gedankenlos sprach.
    »Ich reise gerne in die Schweiz«, antwortete sie nach einer Weile. »Aber mein Onkel hat versprochen, dass er bald kommt. Ich will zuerst auf ihn
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