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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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Gedächtnis der Götter?
    Ich hatte nicht bemerkt, dass die Ehrengäste zum Ende ihrer 372
    Reden kamen. Erst als man Seine Heiligkeit zum Rednerpult bat, kehrte ich, mit leichtem Schwindelgefühl, in das Hier und Jetzt zurück. Der Dalai Lama sprach; er redete nicht wie die Politiker, nein, sondern in der schlichten, bildhaften und humorvollen Sprache der Weisen; in einer Sprache, die selbst ein Kind verstehen konnte.
    Und doch herrschte im Gotteshaus eine andächtige, nahezu atemlose Stille. Die Zuhörer lauschten ergriffen, bis das jubelnde Brausen der Orgel die Wölbung erfüllte. Glitzernde Punkte funkelten in den Facetten der Fenster. Schien die Sonne? Ja, wahrhaftig! Ich starrte zu den wehenden Lichtschleiern empor. So genau fügten sich alle Dinge zusammen, dass mir war, als ob ich lediglich Buch geführt hätte.
    Doch mir blieb keine Zeit, die Veränderungen gründlicher ins Auge zu fassen; ein erregter Summton kam auf: Der Zug der Ehrengäste bewegte sich auf den Ausgang zu. Nun drängten sich die Menschen zu beiden Seiten des Mittelschiffs. Auch wir erhoben uns. Amla blieb zurück, während ich mich langsam durch die Menge schob.
    Meine Hände bewegten sich tastend, suchten etwas, fanden es. Eine Gestalt kam auf mich zu, ein Mann in roter Mönchsrobe. Ich erblickte, ganz aus der Nähe, das vertraute Gesicht, erkannte unter der Milde die Willensstärke und die Kraft. Stumm hielt ich ihm jene Glücksschärpe entgegen, die er einst, in einem anderen Land, unter einem anderen Himmel, mit jugendlicher Kraft gesegnet hatte. Eine Kata muss vollkommen sein, makellos. Diese zeigte auf dem weißen Stoff den deutlichen Abdruck einer Hand. Nun stand er vor mir; hinter der Brille schimmerten warm die lebhaften, gütigen Augen. Er schien mich zu sehen und doch gleichsam durch mich hindurchzusehen. Ich erwiderte nicht seinen Blick; es wäre zudringlich gewesen, unpassend. Zitternd, mit gesenktem Kopf, legte ich ihm die Kata um die Schultern. Er flüsterte einen Segensspruch, nahm sie wieder ab, schob sie mir mit sanfter, schützender Bewegung um die Schultern. Einen Atemzug lang legte er seine Stirn an meine Stirn, schenkte mir etwas von der Lebenskraft, die ich aufnahm und einatmete, mit jeder Faser meines Seins.
    Und dann war es vorbei. Die hochgewachsene, leicht gebeugte Gestalt entfernte sich, trat aus dem Münstertor in die flirrende Mittagshelle. Ich aber stand still, in einem wundersamen Traum gefangen. Das Blut pochte hinter der Schläfe, übertönte alle Geräusche, die nahen und die fernen, als ich die Glücksschärpe drehte und wendete, den vertrauten Abdruck des Schmerzes suchte, des nahenden Todes. Und nur den reinen, unbefleckten Stoff sah.
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    Strahlend weiß wie das Licht, angezündet zum Sieg der barmherzigen Götter Tibets.
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