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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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kommen, den Rhythmus des eigenen Atems übermitteln. Und der Atem des Arztes ist seine Erfahrung. Er möchte sein Wissen weitergeben.«
    »Er hat mich gut unterrichtet«, sagte Karma. »Und das, was ich von ihm lernen konnte, habe ich dir beigebracht. So muss es sein.«
    Ich sagte zu Karma:
    »Es gibt Momente im Leben, so intensive Augenblicke, dass wir davon geprägt werden. Einer dieser Momente war, als ich Jonten Kalon traf.«
    Sie lächelte.
    »Und die anderen?«
    Ich wandte die Augen ab.
    »Er wäre verrückt, wenn er so weitermachen würde«, sagte ich, und sprach natürlich von Atan.
    »Er ist verrückt, das ist doch klar«, erwiderte Karma, die sofort verstanden hatte.
    »Na ja, wenn du es sagst…«
    »Du kannst es mir glauben. Auf der anderen Seite… Ich denke, dass du etwas in ihm bewirkt hast.«
    Ich hob den Kopf.
    »Was denn, Karma?«
    »Vielleicht hast du seinem Leben einen Sinn gegeben?«
    Ich schwieg und betrachtete das Bild, das Kunsang von Atan gemalt hatte. Es hing vor mir an der Wand und hätte ebenso gut ein Bär oder ein Baum sein können. Auf merkwürdige Weise entsprach 17
    das Bild genau dem Menschen, den ich kannte. Die Schatten vergangener Zeiten huschten beständig über sein Gesicht. Er hatte sein Leben lang Pferde zugeritten und Waffen getragen, und doch war etwas Sanftes in ihm, in seinem Lächeln. Er war auf seine Art ein Weiser.
    »Aber er wird wiederkommen«, sagte ich laut, für mich selbst.
    Karma sah mich an, ein kleines Lächeln hob ihre Lippen.
    »Was das betrifft, ich denke, ja.«
    Der Monsun setzte ein. Schon vormittags war die Hitze drückend. Die fernen Berge waren nebelverhüllt; tagsüber herrschte nur fahles Licht. Wolken quollen empor, mit ihnen kamen die Gewitter. Der Himmel wurde schwarz und grau und schmutzig grün.
    Unaufhörlich krachte der Donner; ein Schlag war noch nicht verhallt, schon schmetterte der nächste. Es hörte sich an, als berste der Himmel von fern her über den Bergen mit klaffenden Rissen auf.
    Schwefelblaue Flammen erleuchteten das Hochtal. Dann wieder tropfte Hitze aus dem schmelzenden Regen. Unermüdlich prasselte Wasser aus sämtlichen Dachrinnen, zersplitterten weiße Sterne im Sand, bildeten sich riesige Pfützen. Der Monsun war die schlimmste Jahreszeit in Nepal. Und solange Monsun war, würde Atan nicht kommen.
    Vom Regen wie von einem Vorhang eingeschlossen, stapfte ich von unserem Haus zur Krankenstation und wieder zurück. Die Patienten waren durchgeschwitzt und apathisch, die klammen Bettlaken rochen nach Urin. Die tägliche Routine brachte mir, wie immer, Erleichterung. Es gab Arbeit, Berge von Arbeit. Jeder einzelne Kranke brauchte Zuwendung. Einige hatten Typhus, andere Malaria, die meisten Lungenentzündung, Infektionen und Durchfall.
    Viele von ihnen waren außerdem Opfer der schweren Folgen ihrer Flucht: Knochenbrüche, Erfrierungen. Doch der gewaltige Lebenswille der Tibeter überraschte mich stets aufs neue. Ich sprach darüber mit Mathai Shankar, dem Leiter der Krankenstation. Seine Sanftheit und Güte ließen vergessen, dass er ein Rana war, aus dem Kriegergeschlecht der indischen Radjsputen, die ein Jahrhundert lang despotisch über Nepal geherrscht hatten. Dr. Shankar hatte in Bombay studiert und war vom Gesundheitsministerium nach Pokhara geschickt worden. »Diese Menschen ringen bis zuletzt mit dem Tod. Es ist eine große Anstrengung, in den Bergen zu leben.
    Wieviel Selbstüberwindung und Härte das braucht, wie viel Einsicht in die absoluten Notwendigkeiten, können wir kaum ermessen.
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    Wären derartige Menschen nachgiebig und weich, sie müssten versagen, zerbrechen.«
    Ich dachte an Atan, an seine ungeheure Anpassung an die Umstände und Widrigkeiten, sein zähes Festhalten und Nichtaufgebenwollen. Der Mensch in den Bergen sucht nicht den Tod, sondern die Erfüllung des Lebens.
    »Auch Sie haben etwas davon«, setzte Mathai Shankar mit seiner leisen, wohlklingenden Stimme hinzu.
    »Ich?« Ich lachte verlegen. »Ich bin wohlbehütet in der Schweiz aufgewachsen. Ich bin verweichlicht…«
    »Sie sind zäher, als Sie glauben«, sagte Shankar. »Sie können viel aushalten und machen nie schlapp.«
    »Wäre weniger zu tun«, sagte ich, »könnte ich mich durchaus aufs Ohr legen und ein faules Leben führen. Aber so, wie das hier aussieht? Und wenn man etwas macht, soll man es recht machen.«
    »Und das ist alles?«, schmunzelte Shankar.
    Er kannte mich gut und erwartete keine Antwort. War ich aufrichtig mit mir selbst?
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