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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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    Ich fühlte meine Wangen heiß werden. Ich hatte immer geglaubt, dass ich wohl fähig sein würde, mit Gleichmut an Atan zu denken.
    Die meiste Zeit hielt ich sein Bild auf Distanz von mir, gebot allen aufwühlenden Erinnerungen vor der Pforte meines Bewusstseins Halt. Es lohnte sich nicht, redete ich mir ein, mein Leben auf ihn auszurichten. Ich würde dadurch nur abgelenkt werden. Es war merkwürdig, wie die Worte des kleinen Mädchens mich beruhigten, mir Trost und Hoffnung gaben. An der schlichten Einfalt von Kunsangs Glauben zerschellten meine Zweifel. Ohne dass ich es mir eingestand, war ich es so müde, mir Sorgen zu machen, voll zorniger Verachtung für mich selbst. Immer das gleiche dumme Spiel, zu dem ich mich hergab! In meinem Alter! Aber man kann in jedem Alter jemanden herbeisehnen. Es ist ein Bedürfnis, das befriedigt werden will. Von nun an, dachte ich, will ich nicht mehr fragen, ob er kommt oder nicht. Ich würde mir eine Frist setzen. Und dann eine Entscheidung treffen.
    21

3. Kapitel

    W ir richten uns alles nach unserer Phantasie ein und sind oft unfähig, einfach die Wirklichkeit zu erleben. Die Vergangenheit mischt sich in die Gegenwart, verblichene Szenen werden lebendig.
    Ich wollte sie verdrängen, als ob es sich um etwas Verbotenes handele. Nein, es war kein Zustand ruhiger Gelassenheit, in dem ich mich befand. Das einst Erlebte blieb zutiefst gegenwärtig, ein Schatten, der mich auf Schritt und Tritt begleitete. Und für manche dieser Bilder übernahm ich keine Verantwortung.
    Dabei kam mir mein Vater in den Sinn, dessen Geist sich durch Raum und Zeit bewegte. Ich konnte es ihm nicht gleichtun, ich rannte gegen Mauern. Ich weiß natürlich nicht genau, wie mein Vater das fertigbrachte, und die Erklärung, die Atan mir damals gegeben hatte, befriedigte mich nicht. Das Wesentliche würde mir immer ein Rätsel bleiben. Ich nehme an, mein Vater hatte sich selbst als Versager empfunden, und sein späteres Schicksal hatte ihn – wie anders wäre es möglich gewesen? – in diesem Gefühl bestätigt. Er hatte in Atan ein Ideal gesehen, den Menschen, der er sein wollte und nie hatte sein können, jedenfalls nicht im gegenwärtigen Leben.
    Ich jedoch musste, um meinen Vater genau zu verstehen, immer wieder zu diesem Bild zurückehren: die beiden verzweifelt weinenden kleinen Mädchen, die von den Rotgardisten gezwungen wurden, ihren Vater zu steinigen, und dann dieser Mann, der plötzlich aus dem Nichts auftauchte: ein königlicher Wolf, der winselnde Schakale verscheuchte. Ich weiß es nicht genau, aber ich neige dazu anzunehmen, dass dieses Bild die Erinnerung meines Vaters unauslöschlich geprägt hatte. Er hatte sich in Tagträumen verloren, seinem Retter eine Geschichte zugedacht, zuerst verschwommen und zögernd, dann für ihn immer deutlicher erkennbar. Und nun, ein alter Mann am Ende seines Lebens, ließ er die Erinnerung vorbeiziehen, bis das einst Erlebte, aus welcher Ferne es auch gekommen sein mochte, greifbar und zutiefst gegenwärtig wurde. Schon möglich, dass jeder Mensch, der in unser Leben auf irgendeine Art eingreift, jemand anders ist, als der, wofür wir ihn halten. Aber im Fall meines Vaters und Atans stimmten Traum und Wirklichkeit überein. Auf irgendeine verschrobene Art hatte Vater die Gewohnheit angenommen, in der Wirklichkeit nichts als die Spiegelung eines Traumes zu sehen. Und wenn ihn zuweilen das 22
    Echo einer fernen Stimme erreichte, die ihm vorwarf, er lebe auf der Flucht vor der Welt, so zuckte er nur die Schultern – was wussten die anderen schon?
    Ich hatte eine Fehlgeburt versorgt; die Frau hatte viel Blut verloren, und wir mussten eine Transfusion machen. Als wir fertig waren, ging es ihr schon wieder gut genug, um ihren gänzlich verstörten Mann trösten zu können. Müde kam ich aus der Krankenstation, wir hatten starken Westwind; der Luftstrom brandete gegen die Himalayakette an, und der aufgewirbelte Schnee verwandelte sich in Regen. Die windgeschüttelten Pappeln, die braunen Hügel unter dem grauen, ausgewaschenen Himmel schienen wie in Cellophanbeutel gehüllt. Ich ging schnell, die Tropfen prasselten wie Hagel auf meinen Schirm, der sein Gewicht rasch zu verdoppeln schien. Ich trug Gummistiefel, watete knöcheltief im Schlamm, der aus dem verwüsteten Ackerland die Straßen überschwemmte. Ein paar abgemagerte Hunde stöberten in vermoderten Abfallhaufen. Unzählige Male hatte ich mir ausgemalt, wie es sein würde, wenn Atan und ich
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