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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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Hände zitterten. Ich gab mir Mühe, meine Erregung zu beherrschen. »Sei keine Närrin! Er ist da, und wird wieder gehen. Was soll er hier im Camp? Mit alten Männern Bier trinken und Erinnerungen tauschen? Du bist eine intelligente Frau, Tara, du darfst dir nichts vormachen. Du wirst ihn aufgeben müssen, das ist besser für alle. Er ist am Leben geblieben, das sollte dir genügen.«
    Unser Speisezettel war einfach, nahezu phantasielos, aber Karma kochte gut. Ihre scharf gewürzten Momo – mit Hammelfleisch gefüllte Teigtaschen – schmeckten ausgezeichnet. Buttertee stand immer in der Thermosflasche bereit; mir war er zu salzig, ich bevorzugte morgens Milchtee. Ich goss Atan Buttertee ein, stellte die Thermosflasche auf den Tisch und brachte die aufgewärmten Momo in einer Schale. Wie immer aß Atan langsam und mit Bedacht; ich selbst brachte kaum einen Bissen hinunter. Wie hypnotisiert saß ich ihm gegenüber, konnte die Augen nicht von dem nussbraunen Gesicht wenden, von den großen Pupillen unter den geschwungenen Augenlidern. Mir schien, sein Gesicht war ruhiger als früher, aber ich mochte mich täuschen. War er jemals ruhig gewesen?
    »Der Monsun ist schlimm in diesem Jahr«, sagte ich. »Ich dachte nicht, dass du kommen würdest.«
    »Ich war in Indien.«
    25
    »Was hast du in Indien gemacht, Atan?«
    Er warf mir einen langen Blick zu.
    »Du weißt doch, ich hatte eine Aufgabe zu erledigen.«
    »Ach ja, deine Aufgabe…« Ich lächelte flüchtig. »Und… hast du sie erledigen können?«
    »Ich würde sagen, ja.«
    »Hast du Seine Heiligkeit gesehen?«
    »Man hat mich nicht vorgelassen. Diese verdammten Bullen sind alle gleich, ob sie einen Helm oder eine Mönchsrobe tragen. Aber die Dokumente, die ich für Seine Heiligkeit zusammengestellt habe, wurden ihm übergeben, das jedenfalls steht fest.«
    »Wie kannst du dir so sicher sein?«
    Er runzelte leicht die Stirn.
    »Ich habe das Orakel befragt. Es hat den Geist meiner Mutter gerufen. Ihre Antwort war ja.«
    Bei diesen Worten war Atans Stimme melancholisch geworden.
    Auf seinem Gesicht lag jener erregende Ausdruck von Traum, den Menschen manchmal annehmen, wenn sie die Zuversicht und den Glauben ihrer Jugend wieder heraufbeschwören. Atan sah es als Tatsache an, dass die Unterlagen, für dessen Aufspüren er zehn Jahre seines Lebens geopfert hatte, sich nun in den Händen des Dalai Lama befanden. Früher hätte ich nur mit Mühe seine Überzeugung geteilt, aber ich hatte in Tibet gelernt, die Visionen der Orakel zu achten. Atans Mutter Shelo war eine Heldin des tibetischen Widerstandes und eine berühmte Träumerin gewesen. Die Nomaden lebten seit vielen Generationen in enger Verbindung mit der Natur, daran hatte weder die chinesische Besatzung noch der moderne Zeitgeist etwas ändern können.
    Irgendein tiefer Instinkt sagte ihnen, dass man von einer Welt in eine andere wechseln kann.
    Ich sagte:
    »Und was wirst du jetzt tun, Atan? Jetzt, wo deine Aufgabe erfüllt ist?«
    Er nickte vor sich hin, mit einem merkwürdigen Glitzern in den Augen.
    »Darüber muss ich nachdenken.«
    »Vielleicht gibt es für dich noch andere Aufgaben.«
    Er nahm erneut einen Schluck Tee, wobei seine dunklen Augen mich über den Rand der Schale betrachteten. Endlich nickte er.
    »Auch darüber habe ich nachgedacht.«
    26
    »Ja?«
    »Ich habe auch an dich gedacht. Genau genommen jeden Tag.«
    Ich erwiderte fest und voll seinen Blick.
    »Ich auch«, erwiderte ich rau. »So habe ich es überstanden.«
    Die Bewegung hatte ich nicht geplant, dass ich meine Hand neben die seine auf den Tisch legen würde. Er folgte meiner Geste mit den Augen, hob seine Hand; gerade als er sie auf die meine legen wollte, schweiften seine Augen von mir ab, richteten sich auf die Tür.
    »Kunsang«, sagte er und zog seine Hand zurück.
    Bei den Nomaden war der sechste Sinn so fein wie bei einem Tier, und ich wunderte mich nicht, dass ich ihre Schritte erst einen Atemzug später hörte. Das Mädchen stellte draußen ihren Schirm ab, stieg vor der Haustür aus ihren Gummistiefeln und trat ein. Sie streifte mich mit einem schnellen, überraschten Blick, der dann weiterglitt und sich auf die große, dunkle Gestalt richtete, die im schummrigen Lichtschein sichtbar wurde. Dabei ging über Kunsangs Gesicht ein so helles Leuchten, dass ich unwillkürlich ihr Glück mitempfand.
    »Onkel Atan!«
    Die Art, wie sie mit ihm sprach, entbehrte nicht der herkömmlichen Formen, die ein Kind einem Erwachsenen
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