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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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in ihren Urteilen über ihre Nächsten sehr aufrichtig.
    »Mir scheint«, sagte sie gleich nach der Begrüßung, »dass Sie gerne mit der Grenzmiliz Verstecken spielen.«
    Er zwinkerte ihr zu.
    »Ach, diese Schwachköpfe…«
    »Sie sind verdammt herablassend«, sagte Karma, doch in ihren Worten lag Anerkennung. »Leider sind chinesische Gehirne Mühlen, die langsam, aber pulverfein mahlen.«
    »Ich habe harte Knochen.«
    »Was ich damit sagen will: Sie haben Computer.«
    »IT-Spurensuche ist nur bei gutem Wetter möglich. Bei Monsun 29
    spielt jede Datenbank verrückt.«
    Karma gab auf.
    »Danke, dass Sie Kunsang zu uns gebracht haben«, sagte sie schlicht. »Sie ist ein eigenwilliges Kind und wäre für ein Leben in China ungeeignet gewesen.«
    Doch Atan stimmte ihr nicht zu.
    Kunsang war Halbchinesin – Khang ma char – weder Regen noch Schnee, wie man in Tibet solche Kinder nannte. Sun Li hatte die nötigen Schulgelder bezahlt, und ihre Intelligenz war gut ausgebildet. Verglichen mit ihrem Leben in Tibet hätte es Kunsang in China sicher gut gehabt. Sie war durchaus im Bilde gewesen, was Chodonla erlebt und erduldet hatte. Sie wusste nicht alles, nein, einige Fakten hatte Chodonla dem Kind gewiss ersparen wollen.
    Niemand hatte Kunsang jemals klar und deutlich erzählt, was eigentlich vorgefallen war. Aber Kunsang hatte ihre Mutter unbekleidet gesehen und war nicht naiv. Und wenn Chodonla chinesische Kunstseide trug, sich Schmuckspangen und künstliche Blumen ins Haar steckte – in einer Stadt, wo die Mehrzahl der Frauen mit handgestrickten Wollpullovern, zerfetzten Turnschuhen und billigen Parkas vorlieb nahm –, konnte sich auch eine Elfjährige eine Menge vorstellen. Kunsang sprach jedoch nie darüber. Das gefiel mir nicht. Aber noch widerstrebte es mir, dem Mädchen die ganze Wahrheit zu erzählen. Solange sich ein Kind als Mittelpunkt der Welt fühlt, kann der Schaden nicht groß sein, dachte ich und hoffte, dass es den Tatsachen entsprach.
    »Sie haben Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, obwohl Sie das nicht tun mussten.«
    Er lächelte unfroh.
    »Ich habe mehrere Leben.«
    »Gut. Und wie viele noch?«
    »Einen anständigen Topf voll«, sagte Atan gedehnt.
    Ich verzehrte mich vor Verlangen, mit ihm allein zu sein. Ich fühlte den Funkenstrom, der zwischen uns hin und her ging, so stark, dass es mich fast erstickte. Es war, als gingen seine Worte nicht durch die Luft, sondern durch mein Blut. Aber ich war Karmas Gast…
    »Er wird natürlich nicht bleiben«, sagte sie, als Atan gegangen war und ich Kunsang zu Bett geschickt hatte.
    »Ach, Karma«, sagte ich, »es tut mir Leid. Ich bin ein wenig aus den Fugen.«
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    »Du bist wie eine mondsüchtige Katze«, sagte Karma. »Aber das hilft dir nicht. Er wird sein bisheriges Leben nicht aufgeben. Wozu auch? Siehst du ein anderes für ihn?«
    Ich biss mir auf die Lippen.
    »Nein, natürlich nicht.«
    Sie sagte ja nur die Wahrheit. Er würde wieder gehen, und sei es aus bloßer Unstetheit. Er war ein Nomade, der das Abenteuer liebte und Geschmack an der Gefahr fand.
    »Hat er dir eigentlich gesagt, was er in Indien zu tun hatte?«
    »Er wollte Seine Heiligkeit sehen.«
    »Und? Ist es ihm gelungen?«
    Ich berichtete Karma von dem wenigen, was ich wusste, und stellte einmal mehr dabei fest, wie stark ich auf Vermutungen angewiesen war.
    In dieser Nacht fand ich lange keinen Schlaf. Atans Rückkehr hatte mir keinen Frieden gebracht. Ich empfand eine derart wilde Angst vor der Einsamkeit, dass ich mich bei ihrem ersten Anfall weigerte, sie wahrhaben zu wollen. Diese Herzensangst war neu für mich; sie schien keinen wahren Sinn zu haben. Und doch war sie da.
    Nebelhaft und mehr in Bildern als in Gedanken erkannte ich, dass meine Unruhe ganz unangemessen war. Verletzungen heilen, Narben können verschwinden. Aber noch war es nicht so weit. Noch war die Wunde tief und blutete.
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4. Kapitel

    A n den nächsten Tagen ertappte ich Kunsang dabei, wie sie Atan in den Ohren lag, sich das Pferd anzusehen. Atan gab sich große Mühe mit Kunsang und war immer sehr geduldig mit ihr. Sie hatten rasch einen Grad der Übereinstimmung erreicht, bei dem der Altersunterschied nicht zählte. Die Intensität und die Offenheit ihrer Beziehung hatten auf dem Weg der gemeinsam ausgestandenen Gefahren eine wahrhafte Gemeinschaft zwischen einem Kind und einem Mann geschaffen, der in gewisser Weise seine eigene Kindheit nie richtig aus den Augen verloren hatte.
    »Na schön«, sagte er,
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