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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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wieder zusammenkamen. Und dann geschah es auf die einzige Weise, die ich mir nicht vorgestellt hatte: Ich lief um die Pfützen mit gesenktem Kopf, als ich unversehens gegen einen Mann prallte, der reglos wie aus Stein mitten auf der Straße stand. Ich blickte unter meinem Schirm hervor und sah ihn. Ich konnte nichts sagen, nichts denken – ich stand wie gelähmt. Merkwürdigerweise war meine Wahrnehmung weniger auf seine Erscheinung gerichtet, als auf etwas Nebensächliches: den Geruch nach Fett, Holzkohle und Holunder, der herb und vertraut aus seinem Fellmantel strömte. Ich entsann mich, im Bruchteil eines Atemzuges, wie oft ich unter diesem Mantel geschlafen hatte.
    Wie lange wir so verharrten, weiß ich nicht. Wären wir Europäer oder Amerikaner gewesen, so hätten wir unseren Gefühlen durch Umarmungen und Küsse mitten auf der Straße Ausdruck gegeben.
    Doch wir waren Asiaten; wir wussten beide, dass unsichtbare Augen uns beobachteten, und von erwachsenen Menschen wird Zurückhaltung erwartet. Obendrein war ich Ärztin, man zollte mir Respekt. Und so standen wir beide unbeweglich, sahen uns lediglich an. Was Atan durch den Kopf ging, konnte ich nur erahnen; sein Gesicht war ausdruckslos. Er berührte nicht einmal meine Hand. Ich stand stocksteif vor ihm, mit starrem Blick. Meine Gedanken rasten wild durch den Kopf, während keine Silbe über meine Lippen kam.
    Atan brach als erster das Schweigen.
    23
    »Man sagte mir, dass ich dich in der Krankenstation finde.«
    Wieder wurde mir die besondere Art bewusst, in der Atan sprach.
    Er gebrauchte seine Stimme in der Weise der Leute, die nicht gehört werden wollen, wenn sie sich unterhalten, der Späher, der Gefangenen, der Untergrundkämpfer. Eine Stimme ohne jede Schwingung, ohne Resonanz und Klang. Vielleicht war es nicht seine ursprüngliche Stimme, aber diese Sparsamkeit des Tons war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie zu einem Teil von ihm geworden war. Nie hatte ich gehört, dass Atan die Stimme erhob, nicht einmal zu einem Befehl.
    Ich schluckte und konnte spüren, wie mein Herz raste.
    »Hast du gegessen?«
    Der vertraute spöttische Funke tanzte in seinen Augen.
    »Noch nicht.«
    »Komm!«, sagte ich und fügte hinzu:
    »Kunsang ist in der Schule.«
    »Wie geht es ihr?«, fragte er.
    »Sie wusste, dass du kommen würdest«, sagte ich. »Das ist sehr merkwürdig.«
    Er nickte, nicht im geringsten erstaunt.
    »Sie ist ein mutiges Kind«, sagte ich.
    »Ja, das ist sie.«
    Er ging an meiner Seite, mit lautlosen Schritten; mir fiel auf, dass er das Bein etwas nachzog.
    »Wie steht es mit deiner Wunde?«
    »Du hast sie gut zusammengeflickt.«
    »Nein. Es war schlampige Arbeit. Schmerzt sie dich noch?«
    Er lachte leise.
    »Nur bei feuchtem Wetter. Ich werde alt.«
    »Und die Kopfwunde?«
    Er schob seinen olivgrünen Filzhut in den Nacken. Die Narbe an der linken Stirnseite, wo die Kugel ihn gestreift hatte, würde sich wohl kaum ganz zurückbilden. Aber ich war zufrieden, dass sein Auge unversehrt geblieben war.
    »Du hast Glück gehabt.«
    »Mit einer Ärztin zu reisen hat Vorteile.«
    Ich lachte, weil ich glücklich war und doch nicht wusste, was ich tun oder denken sollte. Immer noch aufgewühlt durch seine Gegenwart, stapfte ich ihm voraus, durch den aufgeweichten Vorgarten, stieß die Tür auf und stellte den Schirm ab. Er ließ seinen 24
    Fellumhang von den Schultern gleiten und schüttelte ihn, bevor er hinter mir in die Wohnung trat. Ich machte Licht; die trübe Neonröhre flammte auf.
    »Setz dich«, sagte ich. »Karma hat gekocht, ich brauche das Essen nur aufzuwärmen. Wo bist du untergebracht?«
    In der Nähe des Klosters befand sich ein Gästehaus. Frauen und Männer schliefen in getrennten Gemeinschaftsräumen. Manchmal waren die Räumlichkeiten überfüllt, aber in der Zeit des Monsuns fand man leicht eine Unterkunft.
    Er ließ sich auf der Sitzbank nieder; es war wirklich erstaunlich, wie gelenkig das Bein wieder war. Ich zog meine Windjacke aus, völlig versunken in der Wahrnehmung seiner Gegenwart. Dadurch, dass er zu mir gekommen war, hatte er die Spannung gelöst, unter der ich seit Monaten stand. Aber gleichzeitig wusste ich mit unerträglicher Sicherheit, dass da nichts Endgültiges war, nichts, was mich binden oder beschweren konnte. Er hatte versprochen, dass er kommen würde, und er war da. Morgen war ein anderer Tag.
    Während ich in der Kochnische hantierte, schien mir, dass ich mehr Lärm als gewöhnlich machte. Meine
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