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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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»sehen wir uns das Tier mal an.«
    Der Regen hatte nachgelassen, aber nur für kurze Zeit; der Himmel war schmutzig gelb, und Nebel stieg aus den aufgeweichten Feldern. Es war mein freier Nachmittag, und Kunsang fragte mich, ob ich mitkommen wollte.
    »Willst du das Pferd auch sehen?«
    Sie hatte immer einen starken Bewegungsdrang gehabt. Ich ließ sie gewähren, auch wenn ihre Streifzüge sie manchmal weit abseits des Camps führten. Nepalesen sind im Allgemeinen gutmütige Menschen; dass tibetischen Kindern Böses geschah, war nahezu ausgeschlossen. Ich nahm meinen Regenschirm unter den Arm.
    »Also gut. Wohin gehen wir?«
    »Zu Amir Shastra, du kennst ihn doch.«
    Ich zog eine leichte Grimasse. Amir Shastra besaß ein kleines Gut, das an das Camp grenzte. Da die Arbeit auf den Feldern ihm nicht genug einbrachte, hatte er einen kleinen Kramladen eröffnet, wo die Flüchtlinge alles Überflüssige fanden, das ihnen ihr spärlich bemessenes Geld aus der Tasche lockte: Transistorradios, Mobiltelefone, altmodische Fernsehapparate, chinesische Uhren, Parfums, Billigmode in aktuellen Trendmustern. Shastra gab bereitwillig Kredit zu unverschämten Zinsen und profitierte von den Flüchtlingen ohne jede Hemmung.
    Ich warf Atan einen Blick zu, den er verstand.
    »Wie kommt Shastra zu einem Pferd?«, fragte ich.
    Kunsang wusste es nicht; sie hatte das Pferd gesehen und ein paarmal versucht, es mit Gras zu füttern. Shastra hatte sie gescholten; das Tier sei gefährlich.
    »Aber das glaube ich nicht, Onkel Atan. Es hat bloß Angst. Und 32
    es ist wirklich ein sehr schönes Pferd.«
    Atans Gesichtsausdruck zeigte, dass er den Weg nur auf sich nahm, um dem Mädchen eine Freude zu machen. Wir verließen das Camp, stapften auf der aufgeweichten Hauptstraße um Pfützen herum, kamen an verfallenen Stupas und Haufen von dampfendem Kuhmist vorbei. Kunsang schlurfte in ihren Gummistiefeln schnell und zielstrebig voran. Atan und ich behielten unsere Gedanken für uns. Wir wollten ihre Begeisterung nicht vorzeitig dämpfen.
    Shastras kleines Steinhaus trug ein überdimensionales Firmenschild, grau vor Regen, mit der Bezeichnung Shastra’s Bazar in nepalesischer, englischer und tibetischer Sprache. Ich dachte, dass wir erst nach dem Pferd fragen müssten, doch Shastra hatte das Tier unter einem Wellblechdach gleich hinter dem Haus angebunden. Wir sahen ein Füllen, pechschwarz mit weißen Fesseln und einer ebenfalls hellen Mähne. Es war entsetzlich mager und hatte ein eiterndes Geschwür am Hals. Als wir näher traten, stellten sich die Ohren wie spitze Dolche an dem schmalen Kopf auf; mit einem nervösen Schwung wandte es sich um, starrte uns voller Argwohn an. Die Augen waren groß, bläulich schimmernd, mit einem scharf aufzuckenden Glanz, der darauf hinweist, dass ein Tier gefährlich werden kann.
    »Ist es nicht schön, Onkel Atan?«, flüsterte Kunsang. Sie wollte sich dem Tier nähern, doch Atan hielt sie zurück, mit einem leichten Händedruck auf der Schulter. Ich verstand nichts von Pferden; immerhin zeigte mir Atans Haltung, dass er aufmerksam geworden war. Langsam trat er heran, ohne das Tier zu berühren. Ich sah, wie das schmutzige Fell des Füllens in ängstlicher Erwartung erschauerte.
    In diesem Augenblick trat Shastra aus dem Haus. Er war ein kleiner schnaufender Mann mit einem großen Kopf, der einen gewaltigen Bauch vor sich hertrug. In den Ohren hatte er goldene Ringe. Er nickte mir zu und bedachte Atan mit einem merkwürdigen Blick, misstrauisch, schlau und äußerst aufmerksam, wobei sich seine Pupillen zu dunklen Knöpfen zusammenzogen. Mit hoher Fistelstimme und in korrektem Englisch eröffnete er sofort das Gespräch.
    »Sie interessieren sich für das Pferd, Kushog?«
    Atan bedachte den Händler mit einem kurzen Blick, der sich sofort wieder auf das Füllen richtete. Bevor er antwortete, ließ er einige Sekunden verstreichen.
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    »Ich glaube nicht. Woher haben Sie es?«
    »Ein Kunde hat es mir gebracht. Er hatte einen Eisschrank auf Abzahlung gekauft und konnte seine Schulden nicht bezahlen.«
    Shastra zog mit kurzem Zungenschnalzen die Schultern hoch.
    »Er hatte den Hengst von einem Freund aus Bhutan, sagte er. Ein prachtvolles Tier, Kushog, wirklich einzigartig. Er selbst hatte keine Ahnung, was für ein Juwel er mir brachte.«
    »Es ist krank«, sagte Atan gleichgültig.
    »Das Geschwür?« Shastra hob protestierend beide Hände. »Aber Herr, wer wird im Monsun nicht krank? So ein Tier braucht gutes
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