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Nachtglut: Roman (German Edition)

Nachtglut: Roman (German Edition)

Titel: Nachtglut: Roman (German Edition)
Autoren: Sandra Brown
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    M yron, hörst du mir überhaupt zu?« fuhr Carl Herbold seinen Mithäftling gereizt an. Er schüttelte ungeduldig den Kopf und brummte: »Blödmann!«
    Myron Hutts, offenbar taub für die Beleidigung, grinste weiter leer vor sich hin.
    Carl schob sein Gesicht näher an seines heran. »Hey, hör auf, so dämlich zu grinsen, Myron! Die Sache ist ernst. Ist davon irgendwas bei dir angekommen? Hast du auch nur ein gottverdammtes Wort kapiert?«
    Myron biß in seinen Schokoriegel. »Klar, Carl. Du hast gesagt, ich soll genau zuhören und gut aufpassen.«
    »Okay.«
    Carl beruhigte sich etwas, auch wenn er ziemlich sicher war, daß Myron nicht einmal einen Bruchteil dessen, was er ihm zu sagen hatte, verstehen würde. Myron war nicht gerade der Hellsten einer; genau gesagt, war er total unterbelichtet.
    Trotz seiner Kraft und ständigen Beflissenheit stellte er mit seinem Spatzenhirn ein Risiko für Carls wohldurchdachte Pläne dar. So ein Komplize hatte seine Nachteile.
    Andererseits benötigte Carl Myron Hutts’ Hilfe. Er brauchte einen, der nicht fähig war, selbständig zu denken, und tat, was man ihm sagte – ohne lange zu überlegen, ohne Fragen, Widerreden oder Skrupel. Eben deswegen war Myron zuletzt doch der perfekte Partner. Selbst wenn er ein gottverdammter Einstein gewesen wäre – aber er hatte kein Gewissen.
    Gewissen, das war ›innerer Dialog‹. Klasse, der Ausdruck,
was? Carl hatte ihn aus einem Artikel in einer Zeitschrift. Er hatte ihn sich eingeprägt und schwups aus dem Hut gezogen, als er das letztemal vor dem Ausschuß für bedingte Haftentlassung antanzen mußte. Fünf Minuten lang hatte er sich des langen und breiten über seine inneren Dialoge bezüglich seiner vergangenen Missetaten und des Unheils ausgelassen, das er in seinem eigenen Leben und dem anderer angerichtet hatte. Aus diesen Dialogen habe er erkannt, auf dem falschen Weg gewesen zu sein; sie hätten ihn ins Licht der Selbsterkenntnis und des Verantwortungsbewußtseins geführt. Er bereue, was er getan habe, und wünsche, dafür zu büßen.
    Die Ausschußmitglieder hatten sich von den großen Worten nicht beeindrucken lassen. Sie hatten gemerkt, daß er ihnen nur einen Haufen Mist auftischte, und seinen Antrag auf bedingte Haftentlassung abgelehnt.
    Aber mal angenommen, das Gewissen war tatsächlich ein innerer Dialog. Das verlangte abstrakte Vorstellungen, die Myron in seiner Beschränktheit nicht einmal in Erwägung zog. Doch Carl war es sowieso egal, ob Myron ein Gewissen hatte oder nicht. Der Typ tat, was ihm gerade in den Kopf kam, und basta. Genau deshalb hatte Carl ihn ausgewählt. Myron würde keine Muffen kriegen, wenn es unappetitlich wurde.
    Der Kerl war selbst ein ziemlich unappetitlicher Typ, um nicht zu sagen grottenhäßlich mit seiner beinahe haarlosen, weißen Haut. Nur die wulstigen Lippen leuchteten unnatürlich rot; die Iris seiner Augen hingegen waren praktisch ohne Farbe. Spärliche helle Augenbrauen und Wimpern ließen seinen ohnehin einfältigen Blick noch einfältiger wirken. Sein Haar war dünn, aber von grober Beschaffenheit, und stand, fast weiß, drahtartig von seinem Kopf ab.
    Einen besonders unappetitlichen Anblick bot er gerade jetzt, wo ihm der zähe Saft der Nougatfüllung des Schokoladenriegels
aus den Mundwinkeln troff. Carl mußte wegschauen, als Myron mit langer Zunge nach dem Zeug leckte.
    Manch einer fragte sich wahrscheinlich, wieso ausgerechnet er und Myron Kumpel waren – bei dem auffallenden Kontrast, der zwischen ihnen bestand –, Myron und der große, dunkle, gutaussehende Carl. Wenn es ihn packte, arbeitete er mit Gewichten, aber mit strenger Regelmäßigkeit absolvierte er täglich in seiner Zelle Liegestützen und andere Leibesübungen, um seinen kräftigen Torso fit zu halten. Er besaß ein absolut umwerfendes Lächeln, das an den jungen Warren Beatty erinnerte. Hatte man ihm jedenfalls gesagt. Er persönlich fand, er sähe besser aus als der Schauspieler, den er als Schwuchtel betrachtete. Aber eine tolle Frau hatte er, ja, Mrs. Beatty, eine total scharfe Nummer!
    An Grips war Carl seinem Kumpel Myron eindeutig weit überlegen. Was Myron zu wenig hatte, das hatte er im Überschuß. Im Planen war er unschlagbar. Die genialsten Einfälle kamen ihm ganz von selbst. Außerdem besaß er ein echtes Talent dafür, eine Idee, die zunächst noch ganz nebelhaft war, anzureichern und zum großen Entwurf zu verdichten.
    Wäre er beim Militär gewesen, so wäre er General geworden.
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