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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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im Frühling wächst dort ein Teppich aus Gras. Das Land, das die Chinesen auf beiden Seiten bewachen, ist mein Land. Dort leben Menschen, die als Grenze nur den Himmel erkennen, und die hohen Berge als Sitz der ewigen Götter. Und das kostbarste Geschenk für sie ist ein schönes Pferd.«
    »Und Kunsang?«
    Wir waren allein. Karma hatte Nachtdienst, und Kunsang schlief im Nebenzimmer.
    »Kunsang«, sagte Atan, »lebt in zwei Welten. Sie reitet das Geisterpferd, wie einst meine Mutter.«
    Eine leichte Übelkeit stieg in mir auf. Ich erinnerte mich an das, was Atan mir von seiner Mutter, der Schamanenfrau Shelo, erzählt hatte. Er hatte von Ereignissen gesprochen, die weit über fünfzig Jahre zurücklagen, aber es waren Ereignisse gewesen, die ich lebendig vor meinen inneren Augen vorbeiziehen sah – noch heute.
    Es kommt eine Zeit, dachte ich, da bleiben von der Erinnerung keine Worte mehr, es bleiben allein Bilder, die sich im Menschen selber zeigen, denn jeder trägt seine Ahnen ja in sich: Sie sind die Materie, aus der er geschaffen wurde. Ich blickte auf Atans Haar, das rabenschwarz und mit grauen Strähnen durchzogen war. Sonne und Wind hatten seiner Haut ihren Stempel aufgedrückt, doch die Falten machten ihn deswegen nicht älter, weil seine Bewegungen so jugendlich waren. Seine Augen blickten nach wie vor scharf; sie waren gewohnt, den Horizont abzutasten, Ausschau zu halten nach Wasser, nach Lehmfestungen, nach dem Feind.
    »Ich weiß nicht, was in Kunsangs Kopf vorgeht«, sagte ich.
    Er lächelte nachsichtig vor sich hin.
    »Es ist ganz undenkbar, dass wir sie je richtig verstehen werden.
    Wie konnte sie wissen, dass ich ein Pferd suchte? Das Tier, das sie 36
    für mich ausgewählt hat, ist ein prachtvoller Hengst, ein Wunder.«
    Ich starrte ihn an.
    »Sie hat es für dich ausgewählt?«
    Er schüttelte belustigt den Kopf.
    »Es sieht ganz so aus.«
    »Und was wirst du jetzt tun, Atan?«
    »Dem Tier einen Namen geben.«
    »Hast du schon einen?«
    »Ja. Rongpa – der Jäger. Es ist Kunsangs Wunsch«, setzte er hinzu.
    »Das ist ein schöner Name«, sagte ich lachend. »Hat er irgendeine besondere Bedeutung für sie?«
    »Noch nicht«, erwiderte er nachdenklich. »Später vielleicht, wer weiß?«
    »Und dann?«
    »Dann werde ich mir Rongpa zum Freund machen. Er hat wunde Punkte. Zum Beispiel, dass er Menschen misstraut. Aber es ist nicht zu spät. Ich kann das noch ändern. Und ich werde mein Versprechen halten: Kunsang soll reiten lernen.«
    Ich spürte, wie ich leicht erschauerte.
    »Das bedeutet, dass du bleiben wirst.«
    »Nein.«
    Ich sah ihn an, mit Qual in den Augen. Er war ein Anachronismus; China hatte Tibet erobert, und die heutige Welt, in ihrer Allgemeinheit, empfand das kaum noch als Tragödie, denn fünfzig Jahre waren inzwischen vergangen; eine lange Zeit.
    Vielleicht war es der Einfluss des alten Tibets, der Atem einer versunkenen Welt, die Atan mit wilder Lebenskraft erfüllten. Ich brauchte mich nur in seiner Nähe aufzuhalten, um ihre aufrüttelnde Wirkung zu empfinden. Seine Haltung war gewiss nicht frei von Pathos, doch die Effekthascherei wirkte nie in irgendeiner Weise gekünstelt. Sie gehörte bei den Khampas zum Prestige und war bei ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. »Das Volk der Könige«
    wurden die Khampas genannt, und das, weil es für sie nach fünfzig Jahren chinesischer Kolonialherrschaft noch selbstverständlich war, als freie Menschen zu leben.
    Die wenigen Augenblicke, die wir für uns hatten, erfüllten uns mit Erregung und Unruhe. In ein Hotel konnten wir nicht gehen; man hätte über uns geklatscht, was nicht gut für meine berufliche Position gewesen wäre. Ich kannte die Nepali inzwischen recht gut: Man 37
    konnte sich aufführen, wie man wollte, solange es im Verborgenen geschah. So kam es, dass Atan und ich uns bei Karma trafen, wenn Kunsang in der Schule war. Dabei bemühten wir uns beide sehr, dass sie keinen Verdacht schöpfte. Es war eine schwierige Sache, weil sie nicht viel sagte und trotzdem alles so gut beobachtete. Ein paarmal schliefen wir miteinander, waren jedoch nie einen ganzen Tag oder eine ganze Nacht zusammen. Wir versetzten uns sehnsuchtsvoll in jene Zeit zurück, in der jede Nacht uns gehört hatte, als wir den gleichen Schlafsack teilten, uns unter dem Sternenhimmel liebten.
    Für mich war es eine harte, grausame Zeit gewesen, eine Zeit voller Gefahren. Aber keine Frau hat je einen Mann richtig geliebt, ohne von seiner Stärke und Wärme
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