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Sudelbücher: Ausgesucht feine Texte mit Biss (German Edition)

Sudelbücher: Ausgesucht feine Texte mit Biss (German Edition)

Titel: Sudelbücher: Ausgesucht feine Texte mit Biss (German Edition)
Autoren: Georg Ch Lichtenberg
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A.
[1765–1770]
    Der große Kunstgriff, kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differenzial-Rechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unsrer witzigen Gedanken, wo oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden. [A 1]
    Die Gesichter der Menschen sind oft bis zum Ekelhaften hässlich. Warum dieses? Vermutlich konnte die nötige Verschiedenheit der Gemütsarten nicht erhalten werden ohne eine solche Einrichtung; man kann dieses als eine Seelen-Charakteristik ansehen, welche zu lesen wir uns vielleicht mehr befleißigen sollten. Um einigen Grund in dieser schweren und weitläufigen Wissenschaft zu legen, müsste man, bei verschiednen Nationen, die größten Männer, die Gefängnisse und die Tollhäuser durchsehen, denn diese Fächer sind so zu reden die 3 Hauptfarben, durch deren Mischung gemeiniglich die übrigen entstehen. [A 4]
    Wenn man, wie die Metaphysiker oft verfahren, glaubt, man verstehe etwas, das man nicht versteht, so kann man dieses nennen affirmative nescire. [A 5]
    Pythagoras konnte einer einzigen Erfindung halber hundert Ochsen opfern, Kepler würde bei seinen vielen Entdeckungen zufrieden gewesen sein, wenn er 2 gehabt hätte. [A 6]
    Bei einem großen Genie geht das in einem Augenblicke vor, was oft bei einem andern ganze Stunden dauert. Ein gewisser Mensch, der eben keine großen Gaben hatte, hielt einen zum Betrug mit der Feder nachgemachten Druck eine ganze Stunde wirklich dafür, andere sahen es im ersten Augenblick. [A 7]
    Es ist schwer anzugeben, wie wir zu den Begriffen gekommen sind, die wir jetzo besitzen, niemand, oder sehr wenige werden angeben können, wenn sie den Herrn von Leibniz zum ersten Mal haben nennen hören: Weit schwerer aber wird es noch sein, anzugeben, wenn wir zum ersten Mal zu dem Begriff gekommen, dass alle Menschen sterben müssen, wir erlangen ihn nicht so bald, als man wohl glauben sollte. So schwer ist es, den Ursprung der Dinge anzugeben, wenn wir hierin [etwas] in Dingen außer uns zustande bringen wollen? [A 9]
    Die Erfindung der wichtigsten Wahrheiten hängt von einer feinen Abstraktion ab, und unser gemeines Leben ist eine beständige Bestrebung, uns zu derselben unfähig zu machen, alle Fertigkeiten, Angewohnheiten, Routine, bei einem mehr als bei dem andern, und die Beschäftigung der Philosophen ist es, diese kleinen blinden Fertigkeiten, die wir durch Beobachtungen von Kindheit an uns erworben haben, wieder zu verlernen. Ein Philosoph sollte also billig als ein Kind schon besonders erzogen werden. [A 11]
    Wenn wir auf einen Gegenstand hinsehen, so sehen wir noch viele andere zugleich mit, aber weniger deutlich. Es ist die Frage, ob dieses Gewohnheit ist oder ob es eine andere Ursache habe? Im ersten Fall müssten wir uns auch angewöhnen können, Dinge deutlich zu sehen, ohnerachtet wir unsere Augen nicht unmittelbar darauf wenden. [A 13]
    Die Bemühung, ein allgemeines Principium in manchen Wissenschaften zu finden, ist vielleicht öfters ebenso fruchtlos, als die Bemühung derjenigen sein würde, die in der Mineralogie ein erstes Allgemeines finden wollten durch dessen Zusammensetzung alle Mineralien entstanden seien. Die Natur schafft keine genera und species, sie schafft individua und unsere Kurzsichtigkeit muss sich Ähnlichkeiten aussuchen, um vieles auf ein Mal behalten zu können. Diese Begriffe werden immer unrichtiger, je größer die Geschlechter sind, die wir uns machen. [A 17]
    Die größten Dinge in der Welt werden durch andere zu Wege gebracht, die wir nichts achten, kleine Ursachen, die wir übersehen und die sich endlich häufen. [A 19]
    Rousseau nennt mit Recht den Akzent die Seele der Rede (Emile p. 96 T. I.), und Leute werden von uns oft für dumm angesehn, und wenn wir es untersuchen, so ist es bloß der einfache Ton in ihren Reden. Weil nun dieses bei den Schriften wegfällt, so muss der Leser auf den Akzent geführt werden, dadurch dass man deutlicher durch die Wendung anzeigt, wo der Ton hingehört, und dieses ist es, was die Rede im gemeinen Leben vom Brief unterscheidet und was auch eine bloß gedruckte Rede von derjenigen unterscheiden sollte, die man wirklich hält. [A 21]
    Der Einfluss des Stils auf unsere Gesinnungen und Gedanken, von dem ich an einem andern Ort geredet habe, zeigt sich sogar bei dem sonst genauen Linnaeus, er sagt, die Steine wachsen, die Pflanzen wachsen und leben, die Tiere wachsen
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