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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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Wir ritten eine schwindelerregend hohe Granitwand entlang, purpurn leuchtend im ersten Tageslicht. Fichten und Lärchen wuchsen hier, und ein kleiner Bach, weiß von Raureif, murmelte zwischen den Steinen. An einer 355
    großen Stange wehten Gebetsfahnen, von Wind und Schnee ausgeblichen. Sie waren mit Segenswünschen für alle lebenden Geschöpfe, Menschen und Tiere, beschriftet. Auf einer Bergwiese weideten Blauschafe. Alles war friedlich, bis wir das Bellen von Hunden hörten. Die Reittiere spitzten die Ohren, und Atans Rappe ließ ein heftiges Schnauben hören. Das Hundegebell kam näher. Drei kräftige, schwefelgraue Tiere jagten mit gebleckten Zähnen den Hang hinab. Fast gleichzeitig wurde eine rotgekleidete Gestalt zwischen Felsblöcken sichtbar. Ein junger Mönch sprang mit einem gellenden Pfiff behende von Stein zu Stein. Augenblicklich schlugen die Hunde einen Haken, duckten sich mit ersticktem Knurren und liefen beruhigt zurück.
    Nur das schleifende Geräusch der Hufe auf den nassen Gräsern, die hastigen Atemzüge der Reittiere waren ein paar Minuten lang zu hören. Am Berghang, wo der Mönch uns entgegenkam, zeichnete sich eine leuchtende Linie ab, wie ein erstarrter roter Blitz. Ein Feuer warf seinen Schein im Dämmerlicht. Ein wirkliches, warmes Feuer, aus Zweigen, die nur wenig Rauch gaben, brannte vor einer Höhle, in der sich Gestalten bewegten. Es waren Mönche, alte und jüngere, mit scharlachroten Tüchern und Fellmänteln bekleidet. Ich wusste von Atan, dass zahlreiche Mönche, die aktiv am Widerstand beteiligt gewesen waren, Zuflucht in den Bergen gesucht hatten. Manche lebten in völliger Autarkie schon jahrelang dort. Das Militär fand nur selten den Weg zu ihren Grotten. Als wir näher ritten, fiel in den flackernden Halbkreis des Feuers der Schatten einer hohen Gestalt.
    Es war ein Mann mit abgezehrten Zügen, der uns gelassen entgegentrat. Über seine dünnen Lippen wanderte ein freundliches, fast schelmisches Lächeln. Seine Stimme war nicht im geringsten laut, und doch tönte sie im Morgenwind, deutlich und hell wie ein Glöckchen.
    »Kommt und stärkt euch am Feuer der Freundschaft. Möge der große Friede des Ortes mit euch sein!«
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37. Kapitel

    D er Mann, der so gesprochen hatte, trug ein formloses Mönchsgewand, in derselben Farbe wie der knotige lange Ast, auf den er sich stützte. Als einziger Schutz gegen den Wind diente ihm ein langer Schal. Seine zahllosen Runzeln, seine dürren Glieder zeigten, dass er alt war, doch das Zerbrechliche an ihm täuschte. In Wirklichkeit war er wie der Pfeiler eines Heiligtums, erdbebenfest.
    Sein Name war Paldor Lhakyi, sein Alter kannte niemand. Später erfuhr ich von Atan, dass er als hoher Mönchsbeamter jahrelang zu den engen Ratgebern Seiner Heiligkeit gehört hatte. Nachdem der Dalai Lama 1959 ins Exil gegangen war, zog er sich als Einsiedler in die Berge zurück, was ihn nicht daran hinderte, sich am Widerstand zu beteiligen. Viele verfolgte Mönche hatten bei ihm Zuflucht gefunden. Die Einsiedelei war als Ort bekannt, wo politisch Gefährdete Verpflegung und Unterkunft fanden, bevor sie über die Pässe nach Indien oder Nepal flohen. Im Laufe der Jahre wurde Paldor Lhakyi zu einer Symbolfigur des tibetischen Freiheitskampfes; die Chinesen hatten ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, doch vergeblich. Er wurde niemals gefasst.
    Unterdessen hatten die Mönche die Verwundeten vom Pferd gehoben. Paldor Lhakyi segnete sie voller Mitgefühl. Allen Umständen zum Trotz hatten die Verletzten Glücksschärpen bei sich, die sie ihrem Gastgeber ehrfurchtsvoll überreichten. Seine Gehilfen sprachen den Flüchtlingen Trost zu, verloren keine Zeit und kümmerten sich um ihre Wunden. Ich vertraute ihrem Wissen vollkommen: Alle Einsiedler besaßen bemerkenswerte Kenntnisse über Pflanzen, Wurzeln, Körner, und Mineralien, die in den Bergen ausreichend vorhanden waren. Kunsangs Verletzung bereitete mir größere Sorge. Atan hatte sie wie ein krankes Kind aus dem Sattel gehoben. Sie schien einer Ohnmacht nahe; ihre Haut spannte sich über die Knochen, ihre Nasenflügel waren eingefallen und bläulich verfärbt. Voller Entsetzen bemerkte ich, dass ihre Tschuba unter der Jacke nass vor Blut war. Ich sagte Paldor Lhakyi, der sie aufmerksam betrachtete, dass es sich um meine Nichte handelte, und dass ich Ärztin war. Er neigte kummervoll den hageren Kopf. Ich fürchtete seine Antwort, so barmherzig sie auch sein mochte, und er schien das zu spüren, denn er
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