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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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große Schmerzen, aber das Mittel wirkt schon.«
    »Wird sie wieder gesund?«, fragte Longsela.
    Ich fühlte, dass ich ihr die Wahrheit schuldig war.
    »Ich weiß es nicht, Longsela. Ich kann es nur hoffen.«
    Bald dampfte auf dem Feuer ein kleiner, bauchiger Kessel.
    Während das Wasser abkühlte, machte ich meine Instrumente bereit.
    Neben Kunsangs Lager befand sich eine Sturmlaterne, die jedoch nur schwaches Licht verbreitete. Ich bat Longsela, die Laterne 359
    hochzuhalten, und schickte mich an, die Wunde zu reinigen und zu untersuchen. Longsela hielt das Licht unentwegt hoch, auch wenn die Laterne schwer war und sie dann und wann ihren Arm mit der freien Hand stützen musste. Nach einer Weile richtete ich mich auf, reinigte die blutigen Instrumente und verband die Wunde neu. Dann wischte ich mir mit dem Ellbogen über die Stirn und stieß hörbar den Atem aus.
    »Du kannst die Lampe jetzt wegnehmen.«
    Longsela stellte sie neben sich, entspannte ihren steifen Arm.
    Ernst und traurig blickte sie mich an.
    »Sie wird sterben, nicht wahr?«
    Meine Schultern sackten vornüber, als wäre mir mein eigenes Gewicht zu schwer geworden. Sie hatte ausgesprochen, was ich längst wusste, auch wenn mein Denken gelähmt war. Longsela saß völlig still, wie ein unbestimmter kleiner Schatten. Ich streckte den Arm über die Bewusstlose, suchte Longselas Hand und fühlte, dass diese Hand jetzt zitterte.
    »Die Kugel schlug zu nahe am Herzen ein. Eine Vene wurde durch die Splitter der zerschmetterten Rippen beschädigt. Zusammen mit dem Blut dringt allmählich Luft in die Brusthöhle. Sie hätte nicht reiten sollen, Longsela. Unter normalen Umständen hätte ich Kunsang sofort ins Krankenhaus eingeliefert, operiert und gerettet.
    Aber nach dem, was geschehen ist, hätte man ihr jede Hilfe verweigert und sie im Gefängnis qualvoll sterben lassen. Sie wünschte sich ein friedliches Ende und nahm das Risiko auf sich. Es ist zu spät, Longsela, ich kann nichts für sie tun.«
    Longsela zitterte zunehmend stärker. Sie hatte bisher den größten Mut gezeigt; die Reaktion war unvermeidlich. Jetzt war sie es, die meine Hand presste, als ob ich sie vor der Verzweiflung bewahren konnte.
    »Wird sie… noch lange leiden?«
    Ich holte tief Luft. So bitter die Wahrheit auch sein mochte, Longsela hatte ein Recht, sie zu erfahren.
    »Sie braucht nichts mehr auszuhalten. Ich gebe ihr das Nötige und noch etwas mehr. Verstehst du?«
    Longselas innere Regungen konnte ich nicht verfolgen. Aber meine Antwort, gegeben in beruflicher Gewissheit und aus der Tiefe meines Schmerzes, löschte offenbar jede Hoffnung in ihr. Die fiebrigen Augen des Kindes wurden noch glänzender, ihr erstes Aufschluchzen war so schwer, dass es einem Röcheln glich.
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    »Sie wird nicht mehr singen«, flüsterte sie. »Nie mehr!«
    Weitere Seufzer folgten, leichtere, als wäre nun der Bann gebrochen. Sie weinte leise, als ob sie befürchtete, die Sterbende aus ihrem Dämmerschlaf zu wecken. Ich legte die Hand auf ihre völlig verkrampfte Schulter.
    »Warte hier; sie soll nicht allein bleiben. Ich werde es Atan wissen lassen.«
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38. Kapitel

    A tan, Longsela und ich wachten bei Kunsang den ganzen Tag und die ganze Nacht. Ich hatte alles getan, um die Schmerzen zu lindern. Das Mittel löste den Muskelkrampf auf, nahm ihr jede Qual.
    Ich hielt Kunsangs Hand umfasst, die kraftlos und glühend heiß in der meinen lag. In einigen lichten Momenten, wenn sie wie aus weiter Ferne auftauchte, erkannte sie uns, nannte unsere Namen und lächelte. In einem dieser Augenblicke kam Paldor Lhakyi; er kniete vor dem Lager der Sterbenden nieder, wobei er eine weiße Kata in den Händen hielt.
    »Diese Kata soll dich begleiten, meine Tochter, als Zeichen unserer Verehrung und Dankbarkeit. Sie wurde, vor unendlich vielen Jahren, von Seiner Heiligkeit gesegnet. Er war noch ein junger Mensch, damals, aber die Kraft in ihr ist ungebrochen. Sie wird dir auf der Schwelle zu deinem neuen Leben Trost bringen.«
    Er verneigte sich vor Kunsang, legte ihr die Kata um die schmalen Schultern. Ich wusste nicht, ob Kunsang seine Worte verstand, doch ihre Augen glänzten und schweiften umher, richteten sich auf den alten Mann, während ein Lächeln ihre Lippen verzog.
    Paldor Lhakyi redete leise und zärtlich zu ihr: ich wusste, seine Worte stärkten ihren Geist und erleichterten ihren Schmerz. Ich aber fühlte mich wie außerhalb meiner selbst, als sei diese Frau, die neben der Sterbenden kniete, eine
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