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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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im hellen Sonnenlicht statt.
    Die Mönche knieten abseits in ihren roten Gewändern. Der Wind trug uns das Murmeln der Gebete zu, den hellen Klang kleiner Zimbeln. Als alles vorbei war, sammelte ich Kunsangs Asche in einer kleinen Urne und schüttete sie in den Gebirgsbach, der in wilder Einsamkeit über das Geröll hinab und unter den Fichten dahinstürzte. Kunsangs Geist, von allen Zweifeln und aller Unrast befreit, schwebte nun über der Erde, über Schluchten, Graniten und Gletschern. Nun würden, ewig wechselnd in den Farben, die schimmernden Schneefelder des Himalayas für sie glänzen und jeden Abend sie das warme Purpur der Sonne überfluten. Es war unsere Art… Die Geister waren überall – wer wollte es wagen, ihren genauen Wohnsitz zu bestimmen?
    Und so entboten wir Kunsang unseren Abschiedsgruß. Wie lange A tan und ich am Ufer des kleinen Wildbaches verharrten, weiß ich nicht. Doch die Luft war dünn vor Kälte und die Sonne blassrot, als 366
    wir uns langsam auf den Weg zur Einsiedelei machten. Ich erklärte Atan, dass ich zurück nach Lhasa und die nächste Flugmöglichkeit nach Kathmandu nutzen wollte.
    »Wenn du willst«, schlug er vor, »reite ich mit dir nach Lhasa.«
    »Wie lange brauchen wir für den Weg?«
    »Mit ein wenig Glück geht das in acht oder zehn Tagen.«
    »Ist das nicht gefährlich für dich? Ich meine… nach dieser Sache?«
    Er verzog ein wenig die Lippen.
    »Wie du weißt, gehen die Chinesen immer nur über die Straße der Dämonen.«
    Ich verstand, was er damit sagen wollte: In den Bergen waren wir in Sicherheit.
    »Und dann?«, fragte ich. »Was wird aus dir?«
    »Aus mir?« Er blinzelte mir zu. »Nun, ich denke, dass ich für eine Weile untertauchen werde. Vielleicht gehe ich nach Neu-Delhi.
    Ich möchte meinen Sohn wiedersehen.«
    »Du machst es mir nicht leicht«, seufzte ich.
    »Vielleicht willst du gar nicht kommen«, sagte er mit Nachdruck.
    »Nach dieser Sache…«
    »Ganz bestimmt will ich kommen«, brummte ich. »Schon allein um zu sehen, wie du dich aus der Klemme ziehst.« Ich fühlte, wie ich innerlich zitterte. »Außerdem habe ich dir ein Versprechen gegeben.«
    »Hältst du für gewöhnlich deine Versprechen?«
    Ich schluckte schwer.
    »Ja, ich versuche es. Ob es mir gelingt? Nun ja… im großen und ganzen gelingt es mir schon.«
    »Gut«, sagte er. »Ich warte auf dich.«
    Wir kamen überein, dass wir über Tante Dolma in Kontakt bleiben würden. Wir sollten aber lieber eine Zeitlang nicht miteinander in Verbindung treten, meinte Atan.
    »In Lithang ist jetzt die Hölle los. Sie sind sehr misstrauisch und gehen der Sache auf den Grund. Es werden noch mehr Leute verhaftet werden. Und ich will Tante Dolma nicht in Schwierigkeiten bringen.«
    Ich sagte leise:
    »Später… wenn sich die Dinge beruhigt haben, dann möchte ich hier leben mit dir, mich um die Nomaden kümmern und meine Kenntnisse in der tibetischen Heilkunde weiter vertiefen. Ich weiß 367
    genau, und daran ist nicht zu rütteln, dass ich nicht mehr lange in Europa leben kann. Das hört sich vielleicht merkwürdig an, aber ich möchte für etwas leben, das wichtig ist und für mich Bedeutung hat.
    Es ist eine Art Mission, wenn du mich verstehst. Und ob du es mir glaubst oder nicht – es hat mit unserem Kampf zu tun. Auch ich bin eine Tibeterin, wie Kunsang es war. Und wenn ich nicht – wie sie –
    mit einer Flagge demonstriere, dann nur, weil ich nicht den Mumm dazu habe.«
    »Man kann es auch anders machen.«
    »Ich weiß. Hier gibt es Menschen, die mich brauchen.«
    Jetzt zeigte sein Gesicht den Anflug eines Lächelns.
    »Kranke pflegen, das könnte selbst ich nicht für dich tun.«
    »Du hast doch auch schon so was gemacht.«
    »Na ja, vielleicht«, meinte er. »Aber ich bin aus der Übung gekommen.«
    »Ach, das glaube ich nicht.«
    Wir tauschten einen langen Blick.
    »Wie ich das so lange ohne dich aushalten werde, weiß ich nicht…«, sagte er.
    »Du findest inzwischen sicher noch ein paar Brücken, die du sprengen kannst«, erwiderte ich schmunzelnd, obwohl ich tief innen in meinem Herzen Beklemmung spürte. Aber das war Atans Haltung dem Leben gegenüber; es war natürlich, dass er immer wieder auf den Gedanken verfiel, etwas zu tun, was er seit seiner Jugend stets getan hatte. Ich konnte versuchen, seine Gedanken und Gefühle nachzuempfinden, aber ich fragte mich, ob das viel Sinn hätte. Und gleichzeitig bemächtigte sich meiner eine geheimnisvolle Freude, denn ich hatte meine Wahl
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