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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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In dieser Mainacht fällt der Regen wie ein Vorhang. Unablässig, dicht und so heftig, dass man die Tropfen kaum mehr unterscheiden kann. Auch die Geräusche der Stadt hat er erstickt mit seinem leisen monotonen Rauschen wie im Winter der Schnee.
    Ein mittelgroßer Mann geht schweren Schrittes auf den menschenleeren Straßen zur Isar. Er hat sich gut vorbereitet. Auch wenn sein bayerischer Filzhut schon durchweicht ist, leitet er das Regenwasser, das sich in der Krempe sammelt, in einem kleinen Bach auf das leichte Nyloncape über seinen Schultern ab. Von dort läuft es in dünnen Rinnsalen in die Falten des Überwurfs hinunter. Sein grüner Mantel, wie der Hut ein Erbstück seines Vaters und darum etwas zu groß, saugt das Wasser auf. Nicht ein Tropfen läuft in die Gummistiefel, die kaum unter dem knöchellangen Mantel hervorschauen.
    Die Insassen der wenigen Autos, die die Fahrbahn entlangzugleiten scheinen, bemerken den Mann nicht, er löst sich schemenhaft im Wasserbild auf. Dabei wäre er am Tag aufgefallen. Denn über seiner linken Schulter trägt er einen grünen Seesack aus alten Armeebeständen und in der rechten Hand einen Spaten. Der Inhalt des Seesacks zieht die Schulter mit Macht nach unten. Einmal bleibt der Mann schwer atmend stehen, ohne seine Last jedoch abzustellen. Er hält nur inne und lässt das Blatt des Spatens auf dem Gehweg knirschend hart aufsetzen. Er dehnt den Rücken und zerrt an dem Gurt des Sacks, der in seine Schultermuskulatur schneidet. Er blinzelt unter der Hutkrempe hervor, um anhand der Anzahl der Laternen abzuschätzen, wie weit er es noch hat, nimmt dann mit einem leisen Stöhnen den Spaten wieder auf und läuft weiter. Noch zwei Straßen sind zu überqueren. Er blickt nicht nach links, nicht nach rechts, sondern marschiert weiter, unbeirrt, flusswärts.
    Die Isar ist an dieser Stelle gespalten in den Hauptstrom und zwei Kanäle. Überall zieht das Wasser rasend schnell vorüber, führt mitgerissene Äste. Die Kiesbänke mit ihren Weidenbüschen sind vollständig überflutet. Der Mann hat keine Augen für die kaum gezähmten Naturgewalten, nimmt keine Notiz von den violetten Aquarelltupfern, die von den bunten Neonröhren am Deutschen Museum in Schlieren herüberwabern. Sein Blick ist nun fest auf die Brücke gerichtet. Sein Schritt wird entschlossener. Über die tobenden Wassermassen hinweg geht es auf die steile Böschung des Hochufers zu. Ein letztes Mal bleibt er stehen, lässt den Spaten auf den Boden gleiten und beugt sich in einer langsamen Dehnung weit vor. Seine Augen suchen den schmalen Rasenstreifen ab, der den Fluss nach dieser Seite säumt, dort, wo vereinzelt große Ahorn- und Kastanienbäume stehen. Die steil ansteigenden Gehwege sind menschenleer. Die wenigen Laternen werfen zitterndes Licht auf die unwirtliche Szenerie.
    Der Mann strafft den Rücken, fasst den Spaten und läuft auf eine mächtige Kastanie zu. Sie gehörte zu Shivas Lieblingsbäumen. Trotzdem ist seine Entscheidung für den majestätischen Riesen erst in diesem Moment gefallen. Sein Abstand zum Gehweg ist groß und er ist im Stamm dick genug, um ihm bei der Arbeit Schutz vor neugierigen Blicken zu bieten. Er zieht den Seesack mit schmerzverzerrtem Gesicht von der Schulter und setzt ihn behutsam zwischen zwei starken Wurzeln ab. Er massiert vorsichtig seine verspannte Muskulatur und wartet, bis sein stoßweise gehender Atem sich wieder beruhigt hat. Er war nie Sportler gewesen, übermäßige körperliche Betätigung hatte er stets gemieden. Nun, mit gut fünfzig Jahren, trifft ihn eine solche Anstrengung völlig unvorbereitet.
    Vorsichtig öffnet er den Karabiner am Seesack und schaut unsicher hinein. Im Halbdunkel sieht er das sandfarbene kurze Rückenfell des Hundes und ein kleines Stück der hellen schwach behaarten Haut seines aufgeworfenen Bauches. Langsam lässt der Mann das Sackleinen aus seinen Händen gleiten. Mit einem leisen Kopfschütteln richtet er sich wieder auf. Unter dem ausladenden Blätterdach des Baumes ist der Regen deutlich schwächer. Er wischt kurz mit der Linken über seinen Nacken, über den ein wenig Regenwasser aus dem Schweißband des Hutes gelaufen ist.
    ***
    Fast genau zehn Jahre ist es her, dass Shiva in Schmidts Leben geplatzt ist. Es hatte mit dem überraschenden Anruf eines früheren Kommilitonen begonnen: »Hallo Uli, hier ist Ali.« Er hatte geschwiegen, nachgedacht. Albrecht, der Querdenker Albrecht Berker aus dem Jurastudium? Der Kommunist, in München der
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